Termine
21. März 2024
19. Oktober 2023
06. April 2022
„phoenix nachgefragt“: Ukraine und Sanktionen gegen Russland
» mehr
17.09.2024
Dieser Hilferuf aus den eigenen Reihen sollte den Grünen zu denken geben
Die Grünen hadern mit ihrem Schicksal, wollen einfach nicht wahrhaben, dass sie schon längst nicht mehr „Everybody‘s Darling“ sind. Doch bekanntlich gilt: Von nichts kommt nichts.
Die Öko-Partei täte deshalb gut daran, sich an Jean Paul Sartre zu halten: „Wenn ihr eure Augen nicht gebraucht, um zu sehen, werdet ihr sie brauchen, um zu weinen“. Die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen waren aus grüner Sicht zweifellos ein Grund zum Weinen.
Nicht alle bei den Grünen schauen so locker über die dramatischen Verluste hinweg wie die Co-Vorsitzende Ricarda Lang. Die scheint ernsthaft zu glauben, an der Migrationsfrage habe es nicht gelegen, dass der AfD solche Erfolge gelungen seien.
Drei Realos werfen der Parteispitze Realitätsverweigerung vor
Das sehen drei hessische Grüne ganz anders. Die bescheinigen in einem Beitrag für die FAZ-Sonntagszeitung ihrer Partei „ein Ausmaß an Ignoranz gegenüber der derzeitigen Lage der ganzen Partei, das man besorgniserregend nennen muss“.
Die drei Autoren sind Hubert Kleinert, einst Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Bundestag und später hessischer Landesvorsitzender, Jochen Partsch, von 2011 bis 2023 Oberbürgermeister in Darmstadt, sowie Daniela Wagner, langjährige Landtags- und Bundestagsabgeordnete sowie Landesvorsitzende der Grünen in Hessen.
Es sind drei „Realos“, die der Parteispitze vorwerfen, nicht zu realisieren, dass sie sich spätestens seit Anfang 2023 im Sinkflug befinde. Zugleich halten sie ihren Parteifreunden knallhart ein Sündenregister vor.
Das grüne Sündenregister
Hier die wichtigsten Vorwürfe:
- Habecks Heizungskonzept habe der Glaubwürdigkeit der Grünen beim Thema Klimaschutz geschadet.
- „Das grüne Herzensthema Kindergrundsicherung“ habe sich als bürokratisches Monstrum ohne echte Verbesserung für die Betroffenen erwiesen.
- In der Migrationsfrage trage die Partei die verschärften EU-Regeln mit. „Aber stets blieb der Eindruck zurück, wirklich recht sei der Partei das alles eigentlich nicht“.
- Bei der Bezahlkarte machten die Grünen Schwierigkeiten. „Aber allein die Unterbindung nachweisbarer finanzieller Transfers, die auch kriminellen Schleuserbanden zugutekommen, spricht für deren Einführung“.
- Das Asylrecht müsse verteidigt werden. Man müsse aber bereit sein, „Demokratie als Ringen um vernünftige Kompromisse zu begreifen“ statt „ideologische Rechthaberei“ fortzusetzen.
- In der Migrationspolitik dominiere allzu oft der „romantisierende und manchmal naive Blick auf geflüchtete Menschen“. Gefordert sei ein Realismus, „der auch Härte kennt und das Ziel einer Bekämpfung der irregulären Migration wirksam verfolgt“.
- Die Klimapolitik müsse sich stärker „an den Akzeptanzgrundlagen von freien und selbstbewussten Bürgern orientieren, die sich nicht gängeln und bevormunden lassen wollen“.
- Eine echte Verkehrswende werde so lange nur auf dem Papier stehen, „solange sich die Bahn in einem derart erbarmungswürdigen Zustand befindet“.
- Immer mehr Menschen empfänden grüne Politik als Bedrohung. Das zeige, „dass grüne Regierungswirklichkeit“ die Verbindung von Ökologie und Sozialem „nicht glaubwürdig begreifbar“ mache.
- Das Bürgergeld gehöre auf den Prüfstand: „Es ist weit weniger eine sozial- und arbeitsmarktpolitische bedarfsorientierte Grundsicherung, vielmehr wird es zu oft als bedingungsloses Grundeinkommen“ verstanden.
Keine Probleme in Grünen-Hochburgen – noch nicht
Die Autoren räumen durchaus ein, dass die Grünen in den neuen Ländern nie sonderlich stark gewesen seien. Auch habe der Abstieg der Öko-Partei die klassischen Grünen-Hochburgen im Westen bisher nur bedingt erreicht.
Und weiter: „Das akademische Mittelschichtsklientel dort kriegt kaum mit, was sich anderswo abspielt. Ihre Problemsicht unterscheidet sich deutlich von der auf dem Lande. Aber wenn der derzeitige Trend anhält, wird es auch dort zu Einbrüchen kommen“.
Man kann sich gut vorstellen, dass die Grünen-Spitze in Berlin „not amused“ über diesen Frontalangriff ist. Es ist eine in der Sache hart formulierte Mängelliste. Sie liest sich fast so, als habe CSU-Chef Markus Söder heimlich mitgeschrieben.
Aus der Distanz ist der Blick klarer
Die Autoren decken schonungslos die Schwächen der Grünen auf: Realitätsverweigerung, ideologische Rechthaberei, Naivität in der Migrationspolitik, Bevormundung und Gängelung der Bürger. Das alles können Politiker von CDU, CSU und FDP eins zu eins in ihre Reden übernehmen.
Offenbar sieht man beim Blick aus der Distanz klarer, was schiefläuft, als wenn man selbst involviert ist. Auch fällt demjenigen das Benennen von Fehlern leichter, der an deren Zustandekommen selbst nicht beteiligt war.
Kleinert, Partsch und Wagner haben mit der aktiven Politik abgeschlossen. Sie wollen nichts mehr werden. Aber ihnen liegt ihre Partei nach wie vor am Herzen. Deshalb sagen sie, was Sache ist.
In Berlin geben sich die Grünen der Selbsttäuschung hin
Habeck, Baerbock, Lang und Nouripour täten gut daran, diesen Zwischenruf aus Hessen ernst zu nehmen. Hier sprechen nicht gescheiterte Politiker, die sich an ihrer Partei rächen wollen. Hier äußern drei erfolgreiche Ex-Politiker ihre Sorgen und Befürchtungen.
Deren Zwischenruf ist zugleich ein Hilferuf. In Berlin scheinen sich noch zu viele Grüne der Selbsttäuschung hinzugeben, die das „grün-gefällige Medienklima hervorgerufen hat“, wie die drei Kritiker schreiben.
Aus hessischer Sicht muss diese Zeit der Selbsttäuschung einem neuen Realismus weichen – wenn der Abstieg der Grünen nicht unaufhaltsam weitergehen soll.
(Veröffentlicht auf www.focus.de am 17. September 2024)
» Artikel kommentieren
Kommentare
Termine
21. März 2024
19. Oktober 2023
06. April 2022
„phoenix nachgefragt“: Ukraine und Sanktionen gegen Russland
» mehr