22.08.2024

Wir müssen nur richtig hinsehen - empfiehlt unser selbstgefälliger Kanzler

Bei den Ampel-Parteien steht täglich „Jeder gegen jeden“ auf dem Spielplan, ihre Umfragewerte sind im Keller, dem Kanzler bescheinigen zwei Drittel der Bürger eine schlechte Arbeit. Da sollte man meinen, Olaf Scholz (SPD) wäre zerknirscht und am Boden zerstört.

Wer das annimmt, hat von Politik offenbar keine Ahnung. Denn der Kanzler bräuchte eigentlich nur ein überdimensionales Gebläse, um den „Pulverdampf vom Schlachtfeld“ wegzupusten. Dann, so die frohe Botschaft des Regierungschefs, könnte man sehen, „was real passiert ist“.

Und was ist passiert? Aus der Sicht des Kanzlers nur Positives, wie er in einem Interview mit SAT.1 betonte: richtig Tempo bei der Modernisierung des Landes hinbekommen, große Krisen bewältigt, neu aufgestellt bei der Verteidigungsfähigkeit, die Nato weiterentwickelt, dafür gesorgt, „dass wir die Ukraine unterstützen können“.

Kanzler Scholz hat neue Lieblingswörter

In der Tat: Seit den Tagen, als eine von Scholz stets gestützte, gleichwohl unfähige Verteidigungsministerin dem überfallenen Land mit 5000 Helmen zur Hilfe eilen wollte, hat sich vieles verändert. Wobei Scholz nicht die treibende Kraft, sondern meist der Getriebene war. Aber wahrscheinlich verschwindet auch hier sein glänzendes Bild hinter Pulverdampf - jedenfalls aus seiner Sicht.

Ob Scholz im Urlaub sich rhetorisch coachen ließ? Anders als sonst sprach er jetzt nicht ständig vom Unterhaken. Auch verzichtete er darauf, allen zu versichern, niemand müsse allein „walken“. Seine neuen Lieblingsworte heißen große Herausforderung (Singular wie Plural) und mühselig.

Scholz‘ persönlicher Maßstab für Erfolge ist nicht allzu hoch

Die Herausforderungen kommen von außen, die Mühsal vom Reagieren in einem Dreierbündnis. Wobei es sich Scholz als Verdienst anrechnet, die Ampel überhaupt zustande gebracht zu haben. Schließlich hätte die CDU/CSU es nicht geschafft, mit Grünen und FDP eine Jamaika-Koalition zu bilden.

Wenn schon das Zustandekommen einer Mehrparteien-Regierung als strategische Meisterleistung gilt, weiß man, dass Scholz‘ persönlicher Maßstab für Erfolge nicht allzu anspruchsvoll ist.

Das aus der Kanzler-Perspektive erfolgreiche, wenn auch mühselige Dreierbündnis ist nach Einschätzung des Grünen Ko-Vorsitzenden Omid Nouripour indes nur eine Übergangsregierung. Da gibt sich Scholz ganz gelassen: Man solle nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.

Nouripours Unwort interpretiert der Kanzler auf scholzige Art um

Da Scholz prinzipiell alles gut oder zumindest nicht schlecht zu finden scheint, interpretiert er Nouripours Unwort auf scholzige Art: „Jede Regierung ist die vor der nächsten, und manchmal ist das die gleiche“. Nun ja, weder die Grünen noch die FDP scheinen das derzeitige rot-grün-gelbe Trauerspiel nach der Wahl 2025 fortsetzen zu wollen.

Apropos Übergang: Hatte Scholz nach den 25,7 Prozent, mit denen er für die SPD das Kanzleramt erobert hatte, nicht vom Beginn eines „sozialdemokratischen Jahrzehnts“ gesprochen? Das war, bei Licht besehen, ein sehr kurzes „Übergangsjahrzehnt“.

Es dauerte nämlich ganze sechs Monate - von der Bundestagswahl im September 2021 bis zum März 2022. Da erzielte die SPD im Kleinstaat an der Saar die absolute Mehrheit. Er war die letzte Wahl mit einem positiven SPD-Ergebnis.

Seitdem hat die Partei bei jeder Wahl Stimmen verloren. Und das alles nur, weil der Pulverdampf der Ampel-Schlachten den Wählern den Blick trübt und das Hirn vernebelt? Oder beurteilen die Wähler die Lage vielleicht realistischer, als Scholz es ihnen zutraut?

Scholz hat ein eigentümliches Verständnis von Politik

Wer wollte bestreiten, dass Olaf Scholz ein eigenes - eigentümliches - Verständnis von Politik hat? Früher seien viele Probleme von der Gesellschaft - an Stammtischen, in Vereinen, in Firmen - „vordiskutiert und vorentschieden“ worden, erklärte er dem TV-Publikum. Heute lande alles gleich bei der Regierung oder im Koalitionsausschuss.

Was wollte der Kanzler uns damit wohl sagen? Dass die Herausforderungen früher nicht so groß waren, das Regierungsgeschäft nicht so mühselig? Hatten die Stammtische da schon eine Lösung, ehe die Regierung nachzudenken begann? Da fragt man sich, wofür man früher überhaupt Politiker brauchte, wenn an den Stammtischen die eigentlichen Experten saßen.

Fest steht eines: Keine andere Regierung ist jemals aus den eigenen Reihen als Übergangsregierung abqualifiziert worden. Und über den Stammtischen der alten Bonner Republik waberten Zigarettenqualm und Bierdunst - aber kein Pulverdampf. Und heute? Da wäre „die Performance“, so Scholz, „eine völlig andere“, wenn er allein entscheiden könnte. Wenn das kein Trost ist, was dann?

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 22. August 2024)


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