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27.07.2024
Betrug am Wähler und das AfD-Problem: Was Sie über die Wagenknecht-Partei wissen müssen
So schnell ist noch keine neue Partei aufgestiegen: 6,2 Prozent bei der Europawahl, beachtliche Erfolge bei den Kommunalwahlen im Osten, deutliche zweistellige Umfragewerte in den neuen Ländern.
Das „Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)“ ist noch keine 7 Monate alt, hat kein richtiges Parteiprogramm und nur ein paar hundert Mitglieder. Hier 8 Punkte zur Einschätzung des politischen Neulings, des „new kid on the block“.
1. Die Basis des BSW ist Betrug am Wähler
Die Pateigründerin und der harte Kern des BSW sind 2021 auf Listen der Linkspartei in den Bundestag eingezogen. Wagenknecht, einst attraktives und argumentationsstarkes Aushängeschild der umbenannten SED, dachte aber schon lange nicht mehr daran, sich in Fraktion und Partei einzufügen. Ende 2023 verließ sie mit 9 weiteren Linken-Abgeordneten die Fraktion. Sie alle nahmen ihre Mandate mit, gehören also weiterhin dem Bundestag an. Man kann das als Betrug an den Wählern werten, die 2021 der Linkspartei ihre Stimmen gaben.
2. Sahra, Sahra über alles
Das BSW ist faktisch eine Ein-Personen-Partei. Alles dreht sich um die Galionsfigur Wagenknecht. Ohne die einstige Vorsitzende der „Kommunistischen Plattform“ innerhalb der Linken hätte dieser Verein der Namenlosen kaum eine Chance.
Mit der Fokusierung auf eine Person kopiert das BSW die erfolgreichen Rezepte von Rechtsradikalen wie Geert Wilders in den Niederlanden oder Nigel Farage in Großbritannien. Eine Partei nach einer Person zu benennen, ist Personenkult in Reinform.
3. BSW – ein Produkt der Medien
Wagenknecht wäre mit ihrer neuen Partei nicht so gut aus den Startlöchern gekommen, wenn sie von den Medien nicht zur Marke aufgebaut worden wäre – als „schöne Kommunistin“ („Stern“). In den Talkshows der öffentliche-rechtlichen Sender war und ist sie häufiger präsent als andere Politiker.
Dabei war Wagenknecht schon seit Ende 2017, als sie den Fraktionsvorsitz der Linken abgegeben hatte, in der eigenen Partei ohne nennenswerten Einfluss. Das hielt viele Medien nicht davon ab, sie so zu behandeln, als wäre sie die mit Abstand wichtigste Politikerin des linken Spektrums.
4. Neues Sammelbecken für Protestwähler
Nach der Wiedervereinigung war die Linke alias PDS alias SED im Osten die Partei derer, die sich als Verlierer der Einheit sahen. Inzwischen stimmen die, die es „denen da oben“ mal so richtig zeigen wollen, für die AfD.
Nun sammelt das BSW alle ein, denen die ganze Richtung nicht passt. Ihr Vorteil: Wagenknechts Partei ist nicht abgewirtschaftet wie die Linke und nicht offen rechtsextrem wie die AfD. Noch ein Vorteil: Man kann sie für nichts verantwortlich machen.
5. Das BSW schließt eine Angebotslücke
Die Parteien ließen sich bisher grob in zwei große Lager einteilen: Links und Rechts. Das BSW passt nicht in dieses Schema. Die Partei ist in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eher sozialistisch, gesellschaftspolitisch tendenziell konservativ, außenpolitisch neutralistisch und pazifistisch. So bietet sie vielen eine neue Heimat: ehemaligen Linken- und SPD-Wählern, Bürgerlichen, denen die CDU zu links geworden ist, die sich am „Gender-Gaga“ ebenso stören wie am „woken“ Lifestyle, nicht zuletzt allen, die das vereinte Europa ebenso ablehnen wie die Nato.
6. Besonders attraktiv für Putin-Versteher
Das BSW lehnt jegliche Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen den Aggressor Putin ab. Sie will keine Waffen mehr liefern und alle Sanktionen gegen Russland aufheben. Und russisches Gas möchte das BSW liebend gern wieder beziehen.
Das macht die Partei attraktiv für Bürger, denen es völlig gleich ist, welche Länder oder Regionen Putin gewaltsam in sein Reich heimholen will. Das kommt bei Ostdeutschen besonders gut an, die nach 40 Jahren SED-Indoktrination überzeugt sind, aus Washington drohten ungleich größere Gefahren als aus Moskau.
7. Viele Gemeinsamkeiten mit der AfD
Zwischen BSW und AfD gibt es große inhaltliche Übereinstimmungen. Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla hat Wagenknechts Programmatik einmal als "fast eins-zu-eins AfD" bezeichnet. Das betrifft die Zuwanderung, die Außen- und die Gesellschaftspolitik. Wagenknecht selbst will durchaus AfD-Wähler gewinnen, diesen ein „seriöses Angebot“ machen. Sie ist gegen jede Ausgrenzung der in Teilen rechtsextremen Partei, gegen Brandmauern. Ihr Kalkül: Wer die AfD als „Schmuddelkind“ behandelt, stößt gleichzeitig ihre Wähler vor den Kopf.
8. Regieren – fast um jeden Preis
Sahra Wagenknecht befand sich fast während ihrer gesamten politischen Karriere in der Opposition – gegenüber der jeweiligen Regierung und meistens auch gegenüber der eigenen Parteiführung. Jetzt will sie endlich gestalten.
Koalitionen mit den Grünen und der AfD lehnt sie kategorisch ab, nicht jedoch solche mit CDU oder SPD. Das BSW will auch nicht aus Prinzip gegen jeden AfD-Antrag stimmen, selbst, wenn er inhaltlich richtig sei.
Zudem schließt das BSW bei parlamentarischen Abstimmungen Unterstützung von Seiten der AfD nicht grundsätzlich aus. Der „Spiegel“ zitiert eine BSW-Sprecherin so: „Es darf nicht Kriterium sein, ob die AfD jemanden wählt oder nicht.“ Was die AfD mache, sei die Sache der AfD. Das riecht stark nach einer informellen „Querfront“.
Wird das BSW zum Zünglein an der Waage?
Bei den Landtagswahlen im Osten muss man aufgrund der aktuellen Umfragen davon ausgehen, dass in Sachsen und Thüringen keine Regierungsmehrheit ohne Einbeziehung von AfD oder BSW zustande kommen kann. In Brandenburg könnte es durchaus sein, dass eine Koalitionsbildung nur mit Hilfe des BSW möglich ist, sei es durch direkte Regierungsbeteiligung oder durch Tolerierung.
Es ist sogar möglich, dass in Thüringen und Sachsen nur noch drei Parteien in den Landtag einziehen werden: CDU, AfD und BSW. In Brandenburg könnten es nur noch SPD, CDU, AfD und BSW schaffen.
Die Bundes-CDU hat nach anfänglichem Zögern ihren Landesverbänden freie Hand gegeben, ob und wie sie mit dem BSW zusammenarbeiten. Bundeskanzler Olaf Scholz hat ebenfalls betont, über Länderkoalitionen werde „vor Ort“ entschieden. Das heißt: In drei ostdeutschen Ländern könnte die neue Partei zum Power-Broker werden – 9 Monate nach ihrer Gründung.
(Veröffentlicht auf www.focus.de am 28. Juli 2025)
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