22.05.2023

Die Qual der Wahl bei der sogenannten Sozialwahl

Im April bekamen die 52 Millionen Deutschen, die in der gesetzlichen Renten- oder Krankenversicherung Beiträge bezahlt haben oder zahlen, Post – die Unterlagen für die Sozialwahl. Jetzt sollen die Empfänger – Beitragszahler wie Rentner – bis zum 31. Mai ihre Stimme für die Vertreterversammlung der „Deutschen Rentenversicherung Bund DRV)“ oder die Selbstverwaltungsgremien mehrerer Krankenkassen abgeben, per Post und portofrei.

Die gesetzlichen Kassen lassen sich diese Wahl mehr als 50 Millionen Euro kosten. Das allein ist freilich kein Argument gegen diese Wahl. Wer über die Kosten von Wahlen, Bürgerentscheiden oder Volksabstimmungen jammert, hat eines nicht verstanden: Systeme ohne Wahlen sind noch viel teurer. Sie kosten nämlich die Freiheit.

Allerdings ist das Interesse an der Sozialwahl sehr überschaubar. Von ihrer Wahlmöglichkeit haben 2005, 2011 und 2017 jeweils nur gut 30 Prozent der Wahlberechtigten Gebrauch gemacht. Sie alle haben den Wahlzettel ausgefüllt und abgeschickt. Doch hinterher haben sie so gut wie nichts mehr von denen gehört, die sie gewählt haben. Denn diese „Vertreter“ der Versicherten – beispielsweise 15 bei der Rentenversicherung – agieren mehr oder weniger im Dunkeln. Sie wollen von den Wählern einen Blankoscheck, denken aber nicht daran, nach der Wahl darüber zu informieren, ob und wie sie ihrer Aufgabe gerecht geworden sind.

Christliche Sozialpolitiker und die beiden „rötesten“ DGB-Gewerkschaften in einem Boot

Auf dem Stimmzettel der Rentenversicherung hat man die Auswahl zwischen 13 Listen – aber nur auf den ersten Blick. Wer genau hinschaut, findet hinter der Nummer eines jeden Wahlvorschlags ein, zwei, drei oder vier „Sternchen“. Das bedeutet: Mehrere Listen sind miteinander verbunden, so zum Beispiel Verdi, IG Metall und die Gemeinschaftsliste der Katholischen und Evangelischen Arbeitnehmerverbände sowie des Kolpingwerks. Das ist besonders apart: Christliche Sozialpolitiker und die beiden „rötesten“ DGB-Gewerkschaften in einem Boot auf der Fahrt in das christlich-sozialistische Paradies. Nun ja, das mögen manche als Verheißung empfinden. Manch bravem Kirchensteuerzahler erscheint das eher als Bedrohung.

Daneben gibt es noch andere Listenverbindungen, zum Beispiel eine von Wahlvorschlägen, die sich bewusst „unabhängig“ nennen, unabhängig von Gewerkschaften, oder das Bündnis von Deutschem Beamtenbund und den Christlichen Gewerkschaften. Der Charme solcher Listenverbindungen besteht darin, dass die Stimmen für beispielsweise drei verbundene Listen addiert und dann die Zahl der auf diese Wahlvorschläge entfallenden Sitze ermittelt wird. Die Sitze wiederum werden je nach den Stimmen, die auf jede der im Verbund vertretenen Liste entfallen sind, zugeteilt. Klingt kompliziert? Ist es ja auch. Aber wo steht denn geschrieben, dass die Wähler verstehen sollen, was sie da machen?

Diese „Selbstverwaltung“ hat mit echter Mitbestimmung nicht viel zu tun

Wer alt genug ist, um sich noch an den Spruch „Wahlrecht ist Wahlpflicht“ zu erinnern, der fühlt sich irgendwie verpflichtet, sich darüber zu informieren, was die einzelnen Parteien, pardon: Wahlvorschläge, so tun wollen. Wer darauf wartet, dass die Kandidaten mit Plakaten oder Broschüren werben, wartet vergeblich. Da muss man sich schon selbst im Internet informieren. Und was lernt man dann? Dass alle, die da gewählt werden wollen, verbal mehr oder weniger für dasselbe eintreten. Verdi wirbt für seine „Kandidierenden“ damit, dass sich diese durch „Kompetenz, Verhandlungsgeschick und Engagement“ auszeichneten. „Sie stehen mitten im Leben und wissen, wo die Menschen der Schuh drückt.“

Die Christlichen Arbeitnehmer ihrerseits treten ein „für die Solidarität der Jungen mit den Alten, der Gesunden mit den Kranken und der Leistungsstärkeren mit den Leistungsschwächeren“. Die Spitzenkandidaten des Beamtenbundes setzen sich dafür ein, „dass die Rente auch in Zukunft ein sicheres und auskömmliches Leben ermöglicht.“

Wer wollte das alles nicht? Das Problem ist nur: Die sogenannte Selbstverwaltung der Rentenversicherung ist für die großen Entscheidungen – Renteneintrittsalter, Rentenniveau, Höhe der Grundsicherung – gar nicht zuständig. Das macht der Gesetzgeber – und das ist auch gut so. Deshalb hat diese „Selbstverwaltung“ mit echter Mitbestimmung nicht viel zu tun.

Genau genommen lohnt der Aufwand für diese Wahl nicht. Bei der AOK und den meisten Ersatzkassen wird auch gar nicht gewählt. Dort einigen sich Gewerkschaften und andere Interessengruppen auf eine gemeinsame Liste und machen dadurch eine Wahl überflüssig. Das Gesetz nennt das „Wahl ohne Wahlhandlung.“

Das erinnert an die Einheitslisten der „Nationalen Front“ in der DDR, erscheint aber mit Blick auf die begrenzten Mitwirkungsmöglichkeiten der Vertreterversammlungen in den Sozialversicherungen als das effizientere Verfahren. Jedenfalls ist nicht bekannt, dass dort, wo es eine „Wahl ohne Wahlhandlung“ gibt, den Versicherten geringere Leistungen zustünden.

Die Organisatoren der Sozialwahl weisen stolz darauf hin, dieser Urnengang sei der größte nach Bundestags- und Europawahl. Diese Wahl ist aber auch die unbedeutendste. Da hat aus Sicht der Wähler jede Bürgermeisterwahl eine größere Bedeutung.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 22. Mai 2023)


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