21.07.2021

Bei dieser Wahl ist alles möglich – und auch das Gegenteil

In 67 Tagen wird gewählt. Wie vor jeder Wahl behaupten Politiker aller Parteien, dies sei eine besondere wichtige Entscheidung, eine Richtungswahl. Was im Grunde auf jede Bundestagswahl zutrifft. Gleichwohl unterscheidet sich dieser Wahlkampf in mehrfacher Hinsicht von früheren. Besonders auffällig: Erstmals seit 1949 steht kein amtierender Kanzler auf dem Stimmzettel. Da Angela Merkel (CDU) nicht mehr antritt, geht es nicht mehr um die Frage, ob ihre Politik bestätigt oder ob sie abgewählt wird. Folglich gibt es für die CDU/CSU in diesem Jahr keinen Kanzler-Bonus, wenngleich Merkels Sympathiewerte nur 2013 der Union zugutekamen (41,5 %), nicht aber 2009 (33,8 %) und 2017 (32,9%), dem zweit- und drittschlechtesten Unionsergebnis aller Zeiten.

Tektonische Verschiebungen möglich

Diese Wahl könnte tektonische Verschiebungen in der Parteienlandschaft zur Folge haben, wie wir sie bisher nur zwei Mal erlebt haben: 1969, als die SPD zum ersten Mal den Kanzler stellte, und 1998, als die Grünen erstmals im Bund mitregieren konnten. Gut möglich, dass die Grünen abermals Wahlgeschichte schreiben: Falls sie vor der SPD zur zweitstärksten Kraft aufsteigen und falls sie sogar das Kanzleramt erobern sollten.

Nun sind die Umfragewerte der Öko-Partei nach der Fülle der Baerbock-Pannen deutlich gesunken. Aber die Flutkatastrophe könnte ihnen Auftrieb geben, weil dadurch ihr ureigenes Thema – der Klimawandel – wieder in den Vordergrund gerückt ist. Platz zwei ist für die Grünen immer noch drin. Selbst eine Kanzlerschaft Baerbocks ist keineswegs auszuschließen. Die Möglichkeit einer Ampel mit SPD und FDP ist und bleibt laut aktueller Umfragen eine Möglichkeit.

Zweifel an den eigenen Spitzenkandidaten

Der Uralt-Slogan „Auf den Kanzler kommt es an“ wird derzeit vom SPD-Kandidaten Olaf Scholz benutzt. Dass Kurt-Georg Kiesinger (CDU) mit dieser Parole 1969 die Wahl verlor, scheint man in der SPD-Zentrale wohl vergessen zu haben. Abgesehen davon: CDU/CSU und Grüne scheinen diese Zuspitzung auf den Mann und die Frau an der Spitze nicht mitmachen zu wollen. Armin Laschet hat sich von den schlechten Umfragewerten vom Frühjahr erholt, stößt aber innerhalb der eigenen Partei und vor allem bei der CSU auf Vorbehalte, was seine Fähigkeit als Stimmenmagnet angeht. Seine unpassende Lacheinlage in Erftstadt hat solche Zweifel noch verstärkt.

Ähnlich ist es bei den Grünen. Deren Wähler hätten mehrheitlich lieber Robert Habeck als Kanzlerkandidaten gesehen. Nach dem geschönten Lebenslauf und ihrem teilweise bei Anderen abgeschriebenen Buch wird Baerbock selbst in der eigenen Partei skeptisch gesehen. Bisher gibt es nur ein einziges Plakat-Motiv mit Baerbock. Darauf fehlt bezeichnenderweise jeder Hinweis, dass diese Frau Kanzlerin werden soll.

Die SPD setzt alles auf Scholz, Union und Grüne dagegen mehr auf die Partei als die Person. Das gab es so auch noch nie.

Keine politischen Lager mehr

In der alten Bundesrepublik standen sich Schwarz und Rot gegenüber. Letztlich entschied die FDP, wer den Kanzler stellt. Seit den neunziger Jahren hatten wir es mit zwei Lagern zu tun: Schwarz-Gelb und Rot-Grün. Das führte unter anderem dazu, dass viele Koalitionswähler ihre Stimmen splitteten. Grüne gaben die Erststimme dem SPD-Kandidaten, FDP-Wähler dem CDU-Bewerber. Umgekehrt bekam die FDP von nicht wenigen CDU-Anhängern die Zweitstimme, damit sie auf alle Fälle über die Fünf-Prozent-Hürde kommt. Man versuchte so, das eigene Lager zu stärken.

Das ist jetzt völlig anders. Die Grünen konkurrieren mit der SPD um Platz eins unter den Parteien links von der Mitte. Außerdem wollen die Grünen angesichts der SPD-Schwäche viele Wahlkreise erobern. Da bleibt kein Raum für rot-grüne Nostalgie und damit verbundene „Leihstimmen“.

Bürgerliche Wechselwähler stehen ebenfalls vor einem Dilemma: Wer mit der Zweitstimme die Freien Demokraten wählt, könnte so Baerbock ins Kanzleramt verhelfen, wenn die FDP nach der Wahl mit Grünen und SPD koaliert. Falls die FDP eine „Ampel“ vor der Wahl nicht kategorisch ausschließt, was sie nicht tun wird, könnte sie das in der Mitte und rechts davon Stimmen kosten.

Stimmzettel als Lottoschein

Die Wähler sind mobiler denn je. Die Zeiten, in denen die Volksparteien CDU/CSU und SPD um etwa 20 Prozent Wechselwähler kämpften, sind lange vorbei. Die Bedeutung der Stammwähler nimmt immer ab; die Wähler wollen von Wahl zu Wahl erneut überzeugt und gewonnen werden.

Zugleich hat sich die Parteienlandschaft drastisch verändert.

Am rechten wie am linken Rand haben AfD und Linkspartei das alte Parteiensystem erweitert. Dem neuen Parlament werden sieben Parteien in sechs Fraktionen angehören: CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP, AfD und Linke. Da sich die alten Lager aufgelöst haben, ist mit Blick auf die künftige Regierungskoalition vieles, ja fast alles denkbar. Schwarz-Grün, eine Ampel mit Grünen, SPD und FDP, Jamaika mit Union, Grünen und FDP, eine Deutschlandkoalition mit CDU, SPD und FDP und ebenso Grün-Rot-Rot mit einer von SPD und Linken gestützten Kanzlerin Baerbock.

Angesichts dieser Lage scheuen die Parteien vor Koalitionsaussagen zurück. Das bedeutet: Wer Grün wählt, kann eine grüne Kanzlerin bekommen oder Schwarz-Grün – aber auch Grün-Rot-Rot. Wer FDP wählt, kann Baerbock via Ampel ins Kanzleramt befördern.

Gut möglich, dass wir am Abend des 26. Septembers die genaue Sitzverteilung im neuen Parlament kennen – aber noch keine Ahnung haben, wer mit wem koalieren wird. Man kann die größere Parteienvielfalt und die Auflösung der alten Lager durchaus positiv sehen. Aber dies hat einen gravierenden Nachteil: Der Stimmzettel wird zum Lottoschein.

Flutkatastrophe als „Zugabe“

Diese neue Unübersichtlichkeit ist in diesen Tagen durch die Flutkatastrophe noch größer worden. Bisher hatte es so ausgesehen, als würde der Wahlkampf in erster Linie darüber geführt, wie der Neustart nach Corona organisiert und finanziert werden soll. Die apokalyptischen Bilder von Ahr und Rur werden der Auseinandersetzung möglicherweise eine ganz andere Richtung geben. Die Klimapolitik könnte in den Vordergrund rücken und damit die Frage, wie teuer ein schnelleres Erreichen der Klimaneutralität werden darf – mit Blick auf Wirtschaft und Arbeitsplätze und nicht zuletzt auf die Kosten und ihre Finanzierung.

Vom CSU-Urgestein Günter Beckstein stammt der Satz, „In der Politik ist alles möglich, aber auch das Gegenteil.“ Das gilt auch und gerade für diese Wahl.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 21.07.2021)


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