06.07.2021

Wahlkampf um die Rente? Ja, bitte!

Vor Wahlen wird gerne gewarnt, allzu scharfe Auseinandersetzungen über die Rentenpolitik könnten die Rentner verunsichern. Das ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil keine Partei den 21 Millionen Rentnern unter den 60 Millionen Wahlberechtigten mit Zumutungen oder gar Kürzungen drohen will und wird – jedenfalls keine Partei, die gut abschneiden will. Ganz abgesehen davon ist die Furcht vor harten Kontroversen höchst unpolitisch: Wann, wenn nicht in Wahlkämpfen, soll denn über die drängenden Fragen und mögliche Alternativen diskutiert und gestritten werden?

Dass die Altersrente zu den wichtigen und drängenden Themen gehört, kann niemand abstreiten. Schon jetzt fließen jährlich mehr als 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt, das heißt von den Steuerzahlern, in die Rentenkasse. Das ist ein Drittel des gesamten Etats. Ohne grundlegende Reformen werden die Zuschüsse weiter steigen müssen. Denn von 2025 an werden die Finanzierungsschwierigkeiten der Rentenversicherung deutlich ansteigen. Immer weniger Arbeitnehmer und immer mehr Rentner – an diesem Missverhältnis lässt sich nichts ändern.

Das Rentensystem ist höchst kompliziert. Mit den Begriffen Eckrentner, Rentenniveau, Äquivalenzprinzip, Nachhaltigkeitsfaktor oder doppelte Haltelinie können die meisten Bürger nicht viel anfangen. Aber ein paar grundsätzliche Fragen lassen sich auch ohne Detailwissen diskutieren. Hier ein paar Vorschläge, über welche Grundsatzfragen sich eine Auseinandersetzung im Wahlkampf lohnen würde: Rente nach Leistung oder nach Bedürftigkeit? Höhere Beiträge oder höhere Steuern? Rente mit 65, 67 oder 67 plus? Höhere Mütterrente für alle? Einheitsrente für alle? Und: Zusätzliche Vorsorge mit Aktien?

Rente nach Leistung oder nach Bedürftigkeit?

Das Grundprinzip unseres Rentensystems ist einfach: Je länger und je mehr ein Arbeitnehmer eingezahlt hat, umso besser steht er sich im Alter. Hier spiegelt sich das Leistungsprinzip wider. Das Gegenteil wäre die Einheitsrente für alle, ganz unabhängig, ob er vorher viel oder wenig verdient hat. An diesem Prinzip will keine Partei rütteln, jedenfalls nicht offen.

Die von der GroKo eingeführte Grundrente durchbricht jedoch dieses Prinzip. Wer wenig verdient, aber 33 Jahre lang Beiträge gezahlt hat, dessen Ruhestandsbezüge werden aufgestockt, völlig unabhängig von seinen Vermögensverhältnissen. Die Linke fordert sogar eine Mindestrente von 1200 Euro im Monat für alle. Die SPD würde, wenn sie könnte, bei der Grundrente nicht nur die Vermögen, sondern auch andere Einkünfte von Rentnern (etwa aus Vermietung) völlig außen vorlassen. Das würde nicht nur teuer, sondern auch zu Ungerechtigkeiten führen. Wie will man eigentlich rechtfertigen, dass zwei Rentner dasselbe bekommen – der eine aufgrund seiner Arbeits- und Beitragsleistung, der andere dank einer staatlichen Aufstockung?

Höhere Beiträge oder höhere Steuern?

Aktuell beträgt der Rentenbeitrag 18,6 Prozent, zu zahlen jeweils zur Hälfte vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber. CDU/CSU, SPD und Grüne wollen am Rentenniveau bei 48 Prozent (vom Durchschnittseinkommen bei 45-jähriger Berufstätigkeit) festhalten. Das wird angesichts der rückläufigen Zahl von Beitragszahlern nicht ohne Beitragserhöhungen möglich sein. Dies sollten, ja müssten die Parteien den Wählern auch offen sagen. Die Alternative wäre noch höhere Zuschüsse aus der Bundeskasse, die ebenfalls vor allem von den Berufstätigen zu zahlen wären. Sollte gar das Rentenniveau steigen, wie es sich der linke Flügel der SPD und die Linkspartei wünschen, wären Beitrags- und Steuerzahler noch stärker gefordert.

Rente mit 65, 67 oder 68?

Als das heutige Rentensystem 1957 eingeführt wurde, lag die Lebenserwartung der Männer unter 70 Jahren. Die Rente musste nicht lange gezahlt werden. Heute leben die Deutschen deutlich länger und sind im Alter viel leistungsfähiger, als ihre Eltern es waren. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 68 Jahre, wie es von vielen Wissenschaftlern gefordert wird, läge also nahe. Doch darüber kann im Wahlkampf nicht gestritten werden. Denn keine Partei wagt dieses unpopuläre Thema aufzugreifen – nicht einmal die FDP.

Angesicht der Finanzlage wäre jedoch zu überlegen, ob nicht das Recht auf eine vorzeitige abschlagsfreie Rente für langjährig Versicherte („Rente mit 63“) bestehen bleiben soll. Natürlich kann und soll niemand, der diese Regelung bereits in Anspruch genommen, wieder an den Arbeitsplatz zurückgeschickt werden. Aber für künftige Rentner müsste wieder gelten, dass ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben zu Abschlägen bei der Rente führt.

Ohnehin gibt es für die Bevorzugung von Menschen mit 45 Beitragsjahren keinen triftigen Grund. Es sei denn, jemand ist nach einem langen Arbeitsleben gesundheitlich angeschlagen. Dann aber macht eine Erhöhung der Erwerbsminderungsrente mehr Sinn als Rentenwohltaten allein nach der Dauer der Beitragszahlung auszuschütten.

Höhere Mütterrente für alle?

Mütter (und Väter), deren Kinder vor 1992 geboren wurden, bekommen als Ausgleich für ihr Aussetzen im Beruf einen geringeren Rentenzuschlag als solche, deren Kinder später auf die Welt kamen. Ja, das ist nicht gerecht; da hat die CSU völlig recht. Aber das gilt bei vielen anderen staatlichen Leistungen ebenfalls. Beispielweise wenn jemand seine Solaranlage zu früh oder zu spät aufs Dach gesetzt hat und folglich für seinen Ökostrom deutlich weniger bekommt als diejenigen, die zum „richtigen“ Zeitpunkt investiert haben.

Interessanterweise steht die CSU mit ihrer Forderung, den zehn Millionen betroffenen Müttern eine milliardenschwere Zusatzleistung zukommen zu lassen, allein. Das hält außer Markus Söder niemand für finanzierbar, nicht einmal die CDU. Eine gewisse Unterstützung erhält der CSU-Mann immerhin vom Noch-Koalitionspartner SPD. Die Sozialdemokraten wollen ebenfalls Müttern mit vor 1992 geborenen Kindern etwas Gutes tun – aber nur bei kinderreichen Familien.

Eine Rentenkasse für alle?

Da sind SPD, Grüne und Linke einig: Künftig sollen auch Beamte, Selbständige, Freiberufler und sogar Politiker in die staatliche Rentenversicherung einzahlen müssen. Das macht bei Selbständigen sogar Sinn, weil viele fürs Alter nicht rechtzeitig vorsorgen und später dem Staat auf der Tasche liegen. Die CDU/CSU will deshalb die Selbständigen zur Vorsorge verpflichten, ihnen aber selbst überlassen, ob sie in die gesetzliche oder eine private Rentenversicherung einzahlen. Das wäre dann das vernünftige Prinzip Auto-Haftpflicht: Pflicht zur Versicherung bei freier Wahl der Versicherung.

Allen Parteien links von der Union sind die vergleichsweise hohen Beamtenpensionen ein Dorn im Auge. Union und FDP wollen es bei dieser Altersversorgung der Staatsdiener belassen, SPD, Grüne und Linke es unter dem Aspekt der Gerechtigkeit ändern. Auch verbreiten sie gerne die These, wenn mehr Bürger in die Rentenversicherung einzahlen müssten, ließen sich deren Finanzprobleme leichter lösen.

Das ist aber eine Milchmädchenrechnung. Wer schon verbeamtet ist, kann aus rechtlichen Gründen kaum in die Rentenversicherung gezwungen werden. Die Neuregelung beträfe allenfalls die künftigen Beamten. Wenn die plötzlich alle Beiträge abführen, kommt aktuell mehr Geld in die Kasse; das trifft zu. Zugleich entstehen mehr Ansprüche auf Rentenzahlungen. An der demografischen Schieflage ändert sich dadurch nichts. Im Gegenteil: Die Finanzierungslücke in der Rentenkasse würde noch größer, zumal die Lebenserwartung von Staatsdienern höher ist als die von anderen Arbeitnehmern.

Zusätzliche Vorsorge mit Aktien?

Das Rentensystem basiert auf dem Umlageprinzip. Die Rentenbeiträge werden nicht angespart. Vielmehr finanzieren die Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen die heute fälligen Renten. CDU/CSU, Grüne und FDP wollen das Umlageprinzip um ein kapitalgedecktes Element ergänzen. Die Idee dahinter: Wenn jeder Arbeitnehmer Geld anspart und es am Kapitalmarkt anlegt, kann er davon im Alter eine zusätzliche Rente beziehen. Die Union erwägt sogar einen Pensionsfonds, in den der Staat für jedes Kind von Geburt an bis zum 18. Lebensjahr Geld einzahlt und das am Aktienmarkt angelegt werden soll. Allerdings werden CDU und CSU hier nicht sehr konkret. Denn diese „Generationenrente“ würde sehr teuer – zu teuer.

Unzufrieden sind alle Parteien mit der bürokratischen Riester-Rente als Teil der privaten Altersvorsorge. Die Grünen wollen sie durch einen Staatsfonds ersetzen, der Aktien erwirbt und mit deren Renditen die Renten aufbessert. Die CDU/CSU plant ähnliches mit einem „Standardvorsorgeprodukt“. Bei beiden Konzepten müssen alle Arbeitnehmer Anteile erwerben, sofern sie nicht ausdrücklich widersprechen. Es handelt sich also um eine zwangsweise „freiwillige“ Vorsorge.

Problematisch ist an diesen schwarz-grünen Plänen, dass ein solcher Staatsfonds angesichts der zur Verfügung stehenden Milliardenbeträge recht bald in vielen Unternehmen zu den Großaktionären zählen würde. Er könnte dann direkt Einfluss auf die Unternehmenspolitik nehmen, was auf noch mehr Staat und weniger Markt hinausliefe.

Die FDP orientiert sich mit ihrer „Gesetzlichen Aktienrente“ am Modell des schwedischen Staatsfonds. Das Modell: Der Beitragssatz zur Rentenversicherung wird um zwei Prozentpunkte gesenkt. Stattdessen zahlt jeder Arbeitnehmer das gesparte Geld in einen Fonds ein, der das Geld am Kapitalmarkt investiert. Das bedeutete: Auch Geringverdiener könnten mit Blick auf die Rente von den höheren Renditen am Kapitalmarkt profitieren, ohne dafür mehr Geld aufwenden zu müssen als im heutigen Rentensystem. Allerdings entstünden bei dieser Reform für eine Übergangszeit erhebliche Mehrausgaben von anfänglich 20 Milliarden Euro pro Jahr.

Es soll, ja es muss gestritten werden

Umfragen zeigen, dass sich viele Menschen fragen, ob sie im Alter genügend Geld haben werden, um ihren gewohnten Lebensstandard beizubehalten. Die heutige Rentnergeneration betrifft das kaum; nur drei bis vier Prozent der Ruheständler sind im Alter auf die staatliche Grundsicherung angewiesen. Aber das wird sich ändern, weil in den kommenden Jahren mehr Menschen in den Ruhestand gehen werden, die aufgrund von niedrigen Einkommen und zeitweiliger Arbeitslosigkeit nur mit einer geringen Rente rechnen können.

In einem Punkt sind sich alle Experten einig: Ohne grundlegende Veränderungen kann das derzeitige Rentensystem diese Herausforderungen nicht bewältigen. Der Reformbedarf ist groß. Darüber muss gesprochen und gestritten werden. Wenn nicht jetzt im Wahlkampf, wann denn dann?

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 6. Juli 2021)


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