02.07.2021

Von Selbstkritik keine Spur! Baerbock lässt im Live-Talk große Chance liegen

Der Montag sei ihr Lieblingstag, verriet Annalena Baerbock beim „Brigitte-Live-Talk“, da fange sie gerne Neues an. Nun, der vergangene Montag dürfte der Kanzlerkandidatin der Grünen nicht so gefallen haben. Da tauchten nämlich Plagiatsvorwürfe auf. Denn zweifellos hat die Politikerin in ihrem Wahlkampfbuch „Jetzt. Wie wir das Land erneuern“ – eine Mixtur aus politischen Statements und Einblicken ins Private – sich großzügig bei anderen Autoren und Institutionen bedient, ohne diese zu erwähnen.

Seitdem war die Spitzenkandidatin abgetaucht: keine Stellungnahme, keine Erklärung, keine Verteidigung. Auch am Dienstag schwieg sie, während ihre Parteifreunde über einen angeblichen Rufmord zeterten und alle Medien heftig attackierten, die über „Baerplag“ kritisch zu schreiben wagten. Jetzt, an diesem Mittwoch, hatte Baerbock die Chance, die Sache zu klären. Um es vorweg zu nehmen: Sie drückte sich um eine klare Antwort herum.

Baerbocks Verteidigungslinie: Kein Sachbuch

Die beiden Interviewerinnen, „Brigitte“-Chefredakteurin Brigitte Huber und Meike Dinklage, Ressortleitung Zeitgeschehen, versuchten mehrfach, von Baerbock eine klare Stellungnahme zu bekommen. Doch diese vermied genau dies. Ihre Verteidigungslinie war recht einfach gestrickt: Es handle sich nicht um ein Sachbuch. Fußnoten seien nicht enthalten, da es keine wissenschaftliche Literatur sei. Letzteres hatte auch niemand behauptet. Aber jeder Schüler weiß, dass er für eine solche Hausarbeit eine glatte Sechs bekäme.

Bei einer Gesprächsrunde der Frauenzeitschrift „Brigitte“ überrascht es nicht, wenn die Interviewerinnen aus ihren Sympathien für die Kandidatur einer Frau für das wichtigste politische Amt in Deutschland keinen Hehl machen. Da wird dann so eben mal behauptet, Baerbock werde „als Frau benachteiligt.“ Dass die Kandidatin da freudig zustimmt, liegt auf der Hand: „Es gibt heftige Angriffe mit Blick auf alles – mit Blick auf Grüne, Klimapolitik, auf alles.“ Ja, das war in Wahlkämpfen schon immer so, selbst in solchen ohne weibliche Spitzenkandidatinnen.

Die Interviewerinnen meinen es gut mit der Grünen

Baerbock hatte Glück, dass ihre Gesprächspartnerinnen die abgekupferten Textpassagen nicht in einen Zusammenhang mit ihrem stark geschönten Lebenslauf und den vergessenen Nebeneinkünften stellten. Denn alles zusammen tangiert die Glaubwürdigkeit der Politikerin. Aber das klammerten die beiden „Brigitte“-Damen lieber aus. Meike Dinklage fragte sogar mit unverhohlener Bewunderung, wie Baerbock es denn schaffe, „über alles Bescheid zu wissen“. Nun ja. Wenn die Kandidatin über ihren eigenen Lebenslauf, ihre Nebeneinkünfte und über ein paar grundlegende Zitierregeln Bescheid wüsste, hätte sie sich und ihre Partei nicht in diese Schwierigkeiten gebracht.

Im Fall Baerbock bestätigt sich wieder einmal eine alte politische Regel: Der größte Schaden entsteht für Politiker nicht durch Fehler oder Affären, sondern dadurch, dass sie darauf falsch reagieren. Hätte Baerbock bereits nach Bekanntwerden der Vorwürfe gesagt, „ja, da hätte ich etwas sorgfältiger arbeiten müssen, tut mir leid“, hätte der Fall nicht solche Dimensionen angenommen. Aber erst schwieg die Spitzengrüne. Und als sie 48 Stunden später sprach, schwurbelte sie, dass es ihr um Veränderung für das Land gehe, statt konkret auf die Plagiatsvorwürfe einzugehen. Und betonte, „selbstkritisch zu sein“, wäre für sie „das Wichtigste“.

Kein Befreiungsschlag

Von Selbstkritik ist bei Baerbock indes nichts zu spüren. Dies wiegt umso schwerer, da die Grünen sich stets als die Partei dargestellt haben, die allen anderen in Bezug auf Moral und Anstand und Ehrlichkeit haushoch überlegen sei. Dieses idyllische, gutmenschliche Bild ist durch Baerbocks Flops beschädigt worden. Die Kanzlerkandidatin versucht das mit pausenlosem Reden über Klima, Aufbruch und Veränderung zu übertünchen. Im wohltemperierten Damenkränzchen bei „Brigitte“ kam sie damit durch. Kritische, von ihr inzwischen enttäuschte Wähler wird sie so kaum zurückgewinnen. Dieser Talk hätte ein Befreiungsschlag sein können; es wurde ein Fehlschlag.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 1. Juli 2021)


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