Boris Palmer, seit 2007 sehr erfolgreicher Oberbürgermeister von Tübingen, hat die Grünen vor eineinhalb Jahren verlassen. Der streitbare „Realo“ kam damit einem Parteiausschluss zuvor.
Doch leidet der Schwabe, in dem der baden-württembergische Landesvater Winfried Kretschmann (Grüne) einst einen potentiellen Nachfolger sah, am Zustand seiner Ex-Partei. Die Grünen isolierten sich in der Gesellschaft wie im politischen Betrieb, klagte er jetzt in einem Interview.
Palmer wirft seiner Ex-Partei vor, beim Thema Flüchtlinge, „der zentralen Streitfrage der Gesellschaft“, allein dazustehen. Sie isolierten sich und flögen deshalb reihenweise aus den Landesregierungen.
Die Analyse Palmers ist eindeutig: Drei Viertel der Wähler seien der Meinung, Deutschland sei bei der Migration überfordert. Bei den Wählern der Grünen sei das Umfragen zufolge genau umgekehrt.
Isolierte Partei: Ex-Grüner Boris Palmer spricht es klar aus
So deutlich spricht das innerhalb der Öko-Partei niemand aus. Doch ist im Parteiestablishment die Verwunderung, ja das Entsetzen darüber zu spüren, dass selbst ihre Koalitionspartner SPD und FDP in dieser Frage inzwischen größere Schnittmengen mit der Union haben als mit ihnen.
Dabei kann man den Grünen nicht vorwerfen, sie hätten sich bei der Begrenzung der Migration nicht bewegt. Doch ihre Annäherung an die Realität - und an die Vorstellungen der großen Mehrheit - erfolgt in Trippelschritten und halbherzig.
Die Grünen scheinen, anders als die CDU, noch immer Merkels Traum vom „Wir schaffen das“ anzuhängen. Da lassen sich ihre Ideologen in Berlin auch nicht von den eigenen Bürgermeistern und Landräten beeindrucken. Die jedenfalls klagen laut darüber, dass sie es angesichts des großen Zustroms nicht mehr schaffen.
Dies alles ist für die Grünen ein böses Erwachen, eine unerbittliche Begegnung mit der Wirklichkeit. Doch sie verhalten sich, als wäre das alles nur ein böser Traum: die unkontrollierte Zuwanderung, die Defizite bei der Integration, die vielen Parallelgesellschaften, nicht zuletzt die steigende Ausländerkriminalität sowie der zugewanderte Antisemitismus.
Deshalb wirken sie selbst da, wo sie sich der Realität stellen, wenig glaubwürdig. Die europäischen Vereinbarungen zum bessern Schutz der Außengrenzen hat die grüne Außenministerin in Brüssel mitverhandelt. Doch die deutschen Grünen im Europäischen Parlament haben dagegen gestimmt.
Grüne blockieren, dann machen sie zögerlich mit - unter Druck
Unter dem Eindruck der schrecklichen Verbrechen von Mannheim und Solingen und angesichts katastrophaler Wahlergebnisse hat Innenministerin Nancy Faeser (SPD) nun plötzlich umfassende Grenzkontrollen eingeführt. Die Grünen machen mit - ebenso zögerlich wie halbherzig.
Man kann den Standort der Grünen bei der Migration so beschreiben: Sie haben sich ein wenig zur Mitte hin bewegt, während SPD und FDP sich deutlich nach rechts in Richtung CDU/CSU bewegt haben.
Unter den Parteien nimmt nur noch die Linkspartei denselben Standpunkt wie die Grünen ein. So gesehen ist die umbenannte SED und designierte politische Abstiegskandidatin in Fragen der Migration der letzte verbleibende Bündnispartner der Grünen.
Das zähneknirschende Ja der Grünen zur Kontrolle der Binnengrenzen wird begleitet von ihrem strikten Nein zur Zurückweisung von solchen Migranten, die bereits in einem anderen EU-Land um Schutz hätten nachsuchen müssen, den sogenannten Dublin-Flüchtlingen.
Auch hier sind die Grünen die Außenseiter. Nach einer Umfrage von „YouGov“ sind 71 Prozent der Deutschen für direkte Zurückweisungen an der Grenze, nur 21 Prozent dagegen.
Die Ökos verlieren „neue“ Wähler
Nun ist keine Partei verpflichtet, genau das zu tun, was Umfragen nahelegen. Prinzipienfestigkeit ist ehrenwert, hat aber ihren Preis. Der besteht unter anderem darin, dass die Grünen im Land Berlin und in Hessen nicht mehr in der Regierung sind, demnächst auch nicht mehr in Thüringen und wahrscheinlich ebenso wenig in Brandenburg.
Die Grünen haben damit zu kämpfen, dass ihre in den letzten Jahren neu gewonnenen Wähler aus der politischen Mitte ihnen wieder den Rücken kehren. So können sie sich nur noch auf ihre zehn, elf Prozent umfassende Kernklientel stützen.
Was die ganze Sache noch schlimmer macht: Die eigene Parteibasis hält noch viel hartnäckiger an der „Refugees welcome“-Politik fest als Lang, Nouripour & Co. Die Grünen-Führung hatte größte Mühe, 2023 für das gemeinsam europäische Asylsystem eine Mehrheit im Länderrat der Partei zu erringen. Jetzt droht neues Ungemach von der Basis.
In der Partei kursiert ein Offener Brief, der innerhalb von drei Tagen bereits von mehr als 1700 Mitgliedern unterzeichnet wurde. Er ist eine einzige harsche Abrechnung mit den Zugeständnissen der Grünen in der Asylpolitik.
Der härteste Vorwurf an die Regierungs-Grünen lautet: „Wer rechte Narrative übernimmt, spielt damit nur den antidemokratischen und menschenfeindlichen Parteien in die Karten“. Und: Die eigene Partei folge einem Diskurs, „der sich gegen die Sicherheit von Menschen wendet - statt ihn zu brechen.“
Die Initiatoren wenden sich unter anderem gegen vermehrte Abschiebungen, insbesondere gegen solche nach Syrien und Afghanistan, und Leistungskürzungen für Ausreisepflichtige. Der eigenen Partei werfen sie vor, Humanität und Menschenrechte nicht mehr in den Vordergrund zu stellen.
Die Führung der Grünen ist wahrlich nicht zu beneiden
Die Führung der Grünen ist nicht zu beneiden. Sie weiß in der Flüchtlingspolitik die eigenen verbliebenen Wähler hinter sich, hat aber die ganz große Mehrheit der Bevölkerung gegen sich.
Innerparteilich kämpft sie an zwei Fronten: Gegen überforderte Kommunalpolitiker auf der einen Seite sowie Parteifunktionäre und Mitglieder, die unverdrossen eine Politik der weit geöffneten Grenzen präferieren, auf der anderen.
Das führt bei Spitzengrünen zu Ärger und Verdruss. Die bekämpfen sie durch immer schärfere Attacken auf die CDU/CSU. Denn sie können nicht leugnen, dass die Opposition nach Solingen die Ampel vor sich hergetrieben hat und zu deutlichen Änderungen ihrer Asylpolitik bewegt hat.
Vor allem attackieren sie den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Dass er die Asyl-Gespräche mit den Regierungsparteien abgebrochen hat, nannte die Co-Vorsitzende Ricarda Lang ein „Schmierentheater“.
Die grüne nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Mona Neubaur ist eigentlich keine Scharfmacherin. Doch jetzt sprach sie Merz ab, was es für vernünftige Lösungen brauche: Ernsthaftigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Kompromissbereitschaft.
Innerhalb der Grünen scheint ein Wettbewerb zu laufen, wer den CDU-Vorsitzenden am schärften niedermacht. Fraktionschefin Katharina Dröge warf Merz vor, sich „wie ein Kind im Sandkasten“ aufzuführen.
Partei schwankt zwischen Ideologie und Pragmatismus
In die gleiche Kerbe hieb der Abgeordnete Dieter Janecek. Merz betreibe ein „Possenspiel ohne Respekt vor dem europäischen Einigungsprojekt“. Wirtschaftsminister Robert Habeck wiederum hielt CDU und CSU eine „erschreckende Bereitwilligkeit zum Populismus“ vor.
Es ist offenkundig: Die Grünen spüren, dass sie in der Asyl- und Flüchtlingsproblematik in der Bevölkerung kaum noch Rückhalt haben. Und die Partei selbst schwankt zwischen Ideologie und Pragmatismus.
Da scheint das Spiel „Haut den Friedrich“ als Ablenkungsmanöver bestens geeignet. Nur übersehen sie dabei, dass die Ampel im Bundestag gar nicht auf die Zustimmung der CDU/CSU angewiesen ist. Dass sich aber SPD, Grüne und FDP - auch hier - nicht einig sind, dafür können Merz und die Union wirklich nichts.
(Veröffentlicht auf www.focus.de am 15. September 2024)