09.11.2022

Steuererhöhungen und Laufzeitverlängerung: Wirtschaftsweise liefern Zündstoff für die Ampel

Die Jahresgutachten der fünf Wirtschaftsweisen waren stets etwas für ökonomische Feinschmecker. Wer sich für kluge volkswirtschaftliche Analysen interessiert, wurde hier fündig und konnte manches lernen. Die jeweiligen Bundeskanzler posierten mit dem druckfrischen Gutachten und den fünf Mitgliedern des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), so der amtliche Titel, gern vor den Kameras. Doch so richtig beherzigt wurden die Vorschläge nie. Denn die waren stets von mehr kühler wissenschaftlicher Präzision geprägt als von Rücksichtnahme darauf, was bei den Wählern ankommen könnte.

Das aktuelle Gutachten, das am Mittwoch dieser Woche (9. November) veröffentlicht wird, dürfte die politische Debatte stärker beeinflussen als die meisten seiner Vorgänger. Denn es enthält eine gehörige Portion politischen Zündstoffs, wie die SZ vorab berichtet. Zum einen plädieren die drei Professorinnen und zwei Professoren dafür, Besserverdienende stärker zu besteuern, um so die vielen Entlastungspakete besser finanzieren zu können. Zum anderen sprechen sie sich für längere Laufzeiten der verbliebenen drei Kernkraftwerke aus.

Obendrein kritisieren die Wissenschaftler, dass viele Entlastungsmaßnahmen wie der Tankrabatt oder die geplante Gaspreisbremse „in großem Umfang auch den höheren Einkommensgruppen zugute“ kämen. Auch lassen sie die Ampel-Regierung wissen, dass sie mit ihren Antworten auf Energiepreiskrise und Inflation viel zu lange gebraucht hätte. „Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Pläne deutlich früher vorbereitet worden wären.“ Das kann man eine schallende Ohrfeige nennen. Allerdings konnte auch nicht habilitierte Zeitgenossen zu dieser Erkenntnis kommen, sofern sie in letzter Zeit Zeitung gelesen haben.

Kommt es zur finanzpolitischen Zeitenwende?

In früheren Jahren war dem Sachverständigenrat zu Recht attestiert worden, dass sich die Mehrzahl seiner Mitglieder am Leitbild der sozialen Marktwirtschaft orientiert habe. Er wurde deshalb von SPD und Grünen gerne als „neoliberal“ beschimpft. Diesen Vorwurf wird aktuell niemand erheben. Denn um die Entlastungen sozial und gerechter zu gestalten, wird in dem Gutachten „eine Teilfinanzierung durch eine zeitlich streng befristete Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder einen Energie-Solidaritätszuschlag für Besserverdienende“ in Betracht gezogen. Zudem soll der von der Koalition auf Druck der FDP bereits beschlossene Abbau der „kalten Progression“ verschoben werden.

Das alles wirkt geradezu sensationell, hatten sich die Sachverständigen in der Vergangenheit doch tendenziell stets für eine niedrigere Besteuerung ausgesprochen. Ebenso hatten sie die im Gefolge der Inflationen überproportional ansteigende Belastung bei der Einkommensteuer stets kritisch beurteilt. Das neue Gutachten leitet finanzpolitisch also eine Zeitenwende ein – jedenfalls auf dem Papier.

Die Wirtschaftsweisen legen sich freilich nicht fest, von welchem Einkommen an man als „Besserverdienender“ gilt, wie hoch der Spitzensteuersatz von derzeit 42 Prozent bei Jahreseinkünften von mehr als 58.500/117.000 Euro (Ledige/Verheiratete) oder der Energie-Soli ausfallen sollen. Ihre Forderung nach einer „strengen“ zeitlichen Befristung zeugt freilich von professoraler Weltferne. Der einst nur für die Zeit des „Aufbau Ost“ eingeführte Solidaritätszuschlag wird bei den oberen zehn Prozent der Steuerzahler noch immer erhoben, weil sich der Fiskus an nichts lieber gewöhnt als an vorhandene Einnahmenströme. Übrigens: Auch die 1902 zur Finanzierung der kaiserlichen Flotte eingeführte Sektsteuer wird immer noch erhoben, obwohl die Flotte längst untergegangen ist.

Für Bundesfinanzminister Christian Lindner und die FDP ist das Gutachten ein schwerer Schlag. Schließlich rechtfertigen die Freien Demokraten ihre Regierungsbeteiligung an der Seite zweier linker Parteien unter anderem damit, auf diese Weise höhere Steuern verhindern zu können. Auch rechnet Lindner es sich durchaus als Verdienst an, den Abbau der „kalten Progression“ durchgesetzt zu haben.

Folgt man den Vorschlägen, müssen beide Lager der Ampel nachgeben

Der Bundesfinanzminister dürfte die meisten Ökonomen auf seiner Seite wissen, wenn er angesichts einer drohenden Rezession die Nachfrage nicht durch Steuererhöhungen zusätzlich dämpfen will. Offenbar misst der Rat der Tatsache, dass der Spitzensteuersatz nicht zuletzt von Selbstständigen und Inhabern von Personengesellschaften gezahlt werden muss, keine Bedeutung bei.

Man kann sich vorstellen, welch‘ große Freude der Vorschlag, die „Reichen“ stärker zu besteuern, bei SPD und Grünen auslöst. Nur sollten beide Parteien sich bei ihren eigenen Forderungen nach höheren Steuern nicht allzu laut auf die „Weisheit“ der Wirtschaftsweisen berufen. Denn die kommen zu dem für Rot-Grün unangenehmen Schluss, eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke über den 15. April nächsten Jahres hinaus „würde zu einer Entspannung des Strommarkts beitragen“. Auf diese Passage im Jahresgutachten würden SPD und Grüne liebend gern verzichten.

Alle drei Partner in der sich als „Fortschrittskoalition“ verstehenden Regierung müssen damit leben, dass ihre eigenen Berater ihnen vorhalten, bei den Entlastungsmaßnahmen viel zu lange gebraucht zu haben und obendrein viele Milliarden Euro mit der Gießkanne verteilt zu haben, auch an diejenigen, die die Zusatzbelastungen aus eigener Kraft schultern könnten. Doch aus den Vorschlägen zur Umverteilung und zur Kernkraft kann der rot-grüne Teil der Ampel ebensowenig Honig saugen wie der gelbe. Wer sich beim Thema Steuern auf die Wirtschaftsweisen beruft, kann deren Ja zur Laufzeitverlängerung nicht ignorieren - und umgekehrt.

Aus all dem folgt, dass das neue Jahresgutachten - ungeachtet brisanter Vorschläge - die politische Diskussion für kurze Zeit beflügeln, die Frontstellungen innerhalb der Koalition jedoch nicht verändern wird. Insofern dürfte dieser Stellungnahme des in den letzten Jahren personell runderneuerten Gremiums ein ähnliches Schicksal beschieden sein wie früheren Verlautbarungen: Sie produziert Schlagzeilen, bewirkt aber keine substantiellen Veränderungen.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 8. November 2022)


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