11.09.2021

Auch Demoskopen machen Wahlkampf

Wie liefe wohl der Wahlkampf, wenn es keine Meinungsumfragen gäbe? Dann könnten sich die Wähler allein an dem orientieren, was die Kandidaten und Parteien versprechen und was sie bisher politisch erreicht oder nicht erreicht haben. Dann bliebe den Medien nur, die politische Stimmung an der Zahl derer zu messen, die die Parteien bei ihren öffentlichen Veranstaltungen mobilisieren. Ansonsten könnten alle nur spekulieren, wer am Wahltag wohl vorn liegen werde.

Solche umfragefreien Zeiten liegen lange zurück. Heute haben acht größere Meinungsforschungsinstitute ständig die Hand am Puls der Wähler. Fast täglich kommen neue Zahlen, werden in den Medien verbreitet und kommentiert, veranlassen die Parteien, Zuversicht zu verbreiten oder eine Aufholjagd anzukündigen. In den Umfrageergebnissen spiegelt sich nicht nur die politische Stimmung wider. Die Befunde der Demoskopen beeinflussen ihrerseits die politische Stimmung und vielleicht auch das Wahlverhalten. Wobei die konkrete Wirkung von Umfragen nicht nachzuweisen ist.

Es spricht viel dafür, dass die Umfragen unterschiedliche Reaktionen auslösen. Da gibt es einmal den aus der Konsumforschung bekannten Bandwagon oder Mitläufer-Effekt. Er besagt, dass Menschen dazu neigen, sich so zu verhalten wie andere auch – so wie bei Umzügen alle dem Festwagen folgen, auf dem eine Band spielt. Wer in Umfragen gut abschneidet, kann nach dieser Theorie damit rechnen, dass bisher unentschiedene Wähler sich dem vermeintlichen Sieger anschließen. Gute Umfragezahlen führen demnach zu noch besseren, weil viele Menschen bei den Siegern sein wollen.

Die seit Wochen ansteigenden Umfragezahlen für die SPD sprechen für die Bandwagon-Theorie. Bei der Union wiederum, deren Umfragewerte eine fallende Tendenz aufweisen, setzt man auf die Gegenthese: Bei den Anhängern von Parteien mit schlechten Umfragewerten käme es zu einer „Jetzt-erst-recht“-Haltung. Und Unentschlossene würden die schlechter dastehende Partei wählen, damit der mutmaßliche Sieger nicht zu stark werde. Es gibt zudem gute Gründe für die Annahme, schlechte Umfrageergebnisse demotivierten die Wahlkämpfer und potentiellen Wähler der betreffenden Partei.

Mit Umfrageergebnissen wird gezielt Politik gemacht. Die SPD verweist gerne auf die für sie positive Tendenz, die sie unterstützenden Medien tun das ebenfalls. Das zeigte sich beispielsweise am Mittwochabend in der ARD-Sendung „Maischberger“. Dort wurde mehrfach die Forsa-Umfrage vom Dienstag mit 25 Prozent für die SPD und 19 Prozent für die CDU/CSU zitiert. Die Allensbach-Ergebnisse vom Mittwoch – 27 Prozent SPD, 25 Prozent CDU/CSU – waren den diskutierenden Journalisten dagegen keine Erwähnung wert.

Da nicht alle Wähler gleich ticken, werden Umfragen wohl neben Mitläufereffekten auch Trotzreaktionen auslösen. Nicht zu unterschätzen dürfte die Schweigespirale sein, eine in den 1970er-Jahren von der damals führenden Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann entwickelte Theorie. Danach neigen Menschen dazu, mit ihrer eigenen Meinung hinter dem Berg zu halten, wenn sie den Eindruck haben, sie stünden mit ihren Auffassungen im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung. Je stärker eine Ansicht die öffentliche Diskussion dominiere, umso schweigsamer würden die Vertreter gegenteiliger Meinungen. Das wiederum gebe den Anhängern der vorherrschenden Meinung zusätzlichen Auftrieb. Übertragen auf den aktuellen Wahlkampf könnte man daraus folgern, dass positive Umfragewerte für die SPD den Trend zugunsten dieser Partei verstärken.

Von einer Tatsache kann man jedenfalls ausgehen: Jede Veränderung in den Umfragen beeinflusst die Wahlkampfberichterstattung und die Wahlkampfführung der Parteien. Die Warnungen der CDU vor einer rot-grün-roten Regierung haben deutlich zugenommen, seit die Umfragen eine rechnerische Mehrheit von SPD, Grünen und Linkspartei ergeben. Wobei Zahlen von Demoskopen umso mehr Gewicht bekommen, je stärker sie von der bisherigen Tendenz abweichen. Das Institut Forsa lag in diesem „Wettbewerb“ zwei Mal vorn. Laut Forsa überholte die SPD vor zwei Wochen erstmals die CDU und fiel die Union jetzt zum ersten Mal auf 19 Prozent.

Es gibt immer wieder den Vorwurf, man könne den Umfragezahlen nicht trauen, weil manche Institute mit den Zahlen selbst Wahlkampf betrieben. Allensbach wird eine gewisse Sympathie für die Union unterstellt. Der Forschungsgruppe Wahlen sagt man nach, dort werde die FDP nicht sehr geschätzt. Forsa wiederum wird unterschwellig vorgeworfen, es präsentiere häufig deutlich abweichende Werte, weil das dem Unternehmen zusätzliche Aufmerksamkeit sichere.

Was immer man von solchen Vorwürfen und Unterstellungen auch halten mag: Ob ein aktuelles Umfrageergebnis die Wahlabsichten der Bevölkerung tatsächlich widerspiegelt oder nicht, lässt sich weder belegen noch widerlegen. Der entscheidende Maßstab für die Qualität der Wahlforscher ist der Vergleich von kurz vor dem Wahlsonntag veröffentlichten Prognosen mit dem tatsächlichen Ergebnis. Da gibt es immer wieder relativ große Abweichungen. Doch das wissen die Demoskopen stets zu erklären: Mit einem Stimmungsumschwung der Wähler in den letzten 24 oder 48 Stunden vor der Wahl, also nach Abschluss der letzten Befragung.

Der britische TV-Moderator David Frost hielt von Wahlumfragen nicht viel. Sein harsches Urteil: „Demoskopie ist die Kunst, hinterher zu begründen, warum alles ganz anders gekommen ist.“ Jedenfalls beeinflussen die Ergebnisse der Demoskopen den Verlauf von Wahlkämpfen stärker als manches Plakat und viele Slogans.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 10. September 2021)


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