25.09.2022

Hendrik Wüst will von der konservativen Wurzel der CDU nichts wissen

Als die CDU sich auf ihrem Parteitag vor zwei Wochen für eine parteiinterne Frauenquote sowie ein verpflichtendes soziales Jahr für junge Leute aussprach und zugleich die Gleichstellung anstelle der Gleichberechtigung der Frauen forderte, rieb sich manches eher konservative Mitglied verwundert die Augen. Denn in diesen Beschlüssen steckt zweifellos mehr Merkel als Merz – jedenfalls von jenem Friedrich Merz, der in der Ära Merkel gerne die Linksverschiebung der CDU kritisiert hatte.

Auch der nordrhein-westfälische CDU-Vorsitzende Hendrik Wüst machte jetzt den aktuellen und ehemaligen CDU-Anhängern, die mit der unter Merkel inhaltlich beliebig gewordenen Partei unzufrieden sind, keine Hoffnung. Im Gegenteil: „Der Markenkern der CDU war nie das Konservative, sondern das Christliche,“ behauptete der nordrhein-westfälische Ministerpräsident im Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.“

Wüst hatte für die Konservativen in seiner Partei jedoch einen Trost parat: „Der Parteitag hat im Übrigen gezeigt, dass die Debatte in der CDU sehr wertgeschätzt wird und man auch andere Positionen respektiert.“ Soll wohl heißen: Auch Nicht-Merkelianer sind in der Partei noch willkommen oder zumindest geduldet.

Auf wackeligen Beinen

Die Wüst‘sche These, wonach das Konservative in der CDU nie eine wichtige Rolle gespielt habe, steht freilich auf wackeligen Beinen. Dazu genügt ein Blick auf die Homepage der CDU www.cdu.de, die im Konrad-Adenauer-Haus gestaltet wird. Dort sind, was der neue Vorsitzende Merz bereits schmerzlich erfahren hat, die Merkel-Getreuen unverändert in der Mehrzahl. Da wurde sicherlich nichts schnell umgeschrieben.

Zur Geschichte der CDU-Grundsatzprogramme kann man unter Die Grundsatzprogramme der CDU | Christlich Demokratische Union Deutschlands Folgendes erfahren: „Bei aller notwendiger Veränderung, bei allem Wandel und aller Modernisierung – wir stehen als Christlich Demokratische Union auf einem festen Wertefundament. Unser Bekenntnis zum christlichen Menschenbild, zu den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und zu unseren drei Wurzeln – der christlich-sozialen, der liberalen und der konservativen: All das ist Grundlage unserer Politik für unser Land und seine Menschen. Gestern, heute und in Zukunft.“

Nun gut: Als die CDU sich – reichlich verspätet – 1978 unter ihrem Vorsitzenden Helmut Kohl ihr erstes Grundsatzprogramm gab, war Wüst erst drei Jahre alt. Dass da der Begriff konservativ ganz weit vorne in der Präambel auftauchte, hat ihn zweifellos noch nicht interessiert. Doch damals positionierte sich die CDU als Volkspartei mit einem anspruchsvollen Ziel: „Freiheit und Menschlichkeit sollen sich nicht wieder in verhängnisvoller Gegnerschaft zwischen sozialen, liberalen und konservativen politischen Strömungen verlieren.“

Seit dieser Zeit durfte in keiner grundsätzlichen Rede der Hinweis auf die drei Wurzeln der CDU fehlen: die christlich-soziale, die liberale und die konservative. Auch Angela Merkel, die Quereinsteigerin aus dem Osten, übernahm die Formel von den drei Wurzeln „mit dem C als Kern und Dach“. Und konservativ definierte sie als junge Parteivorsitzende so: „Fortschritt von festem Fundament aus.“ Da war sie ganz nahe beim einstigen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, der konservativ sein als „an der Spitze des Fortschritts stehen“ beschrieb.

Auch im dritten und bisher letzten Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2007 ist das Konservative bereits im zweiten Satz enthalten: „Die CDU ist die Volkspartei der Mitte. In ihr sind auch heute die politischen Strömungen lebendig, aus denen sie nach 1945 entstanden ist: die christlich-soziale, die liberale und die wertkonservative.“ In der Formulierung „wertkonservativ“ steckt die Abgrenzung gegenüber Vorwürfen von links, von den nationalkonservativen Totengräbern der Weimarer Republik führe ein direkter Weg zu der CDU von heute, eine infame Geschichtsklitterung.

Merkel ist in ihrer Regierungszeit häufig vorgeworfen worden, sie betreibe eine schleichende Sozialdemokratisierung der Partei, vernachlässige die Pflege des „konservativen Tafelsilbers“, wie es der brandenburgische CDU-Vorsitzende Jörg Schönbohm formuliert hat. Doch am Dreiklang unter Einschluss des Konservativen hielt die Partei stets fest – jedenfalls auf dem Papier und in Sonntagsreden.

Wüst spricht wie einst Laschet

Nicht nur Wüst scheint mit der konservativen Wurzel nicht allzu viel anfangen zu können. Schon sein Vorgänger Armin Laschet ist Anfang 2018 – ebenfalls in der FAZ-Sonntagszeitung – mit fast derselben Formulierung auf Distanz zu diesem Parteiflügel gegangen: „Unser Markenkern ist nicht das Konservative“. Laschet wies in dem Interview darauf hin, dass das Wort konservativ in keinem Gründungsprogramm der CDU aufgetaucht sei. „1978 taucht es erstmals in der CDU-Programmatik auf – als "eine der Wurzeln der CDU". Eine Wurzel, aber nicht die Wurzel. Mit dem, der die Achsen verschieben will, werden wir hart streiten.“

Zu diesem „harten“ inhaltlichen Richtungsstreit ist es nie gekommen. Freilich besiegten beim Kampf um den Parteivorsitz zunächst Annemarie Kramp-Karrenbauer und dann Laschet ihren Rivalen Friedrich Merz. Erst als nach der katastrophalen Niederlage bei der Bundestagswahl 2021 die Parteibasis mitbestimmen durfte, siegte Merz mit großem Vorsprung vor zwei Bewerbern aus dem „liberalen“ Merkel-Lager. Markenkern hin, Markenkern her – die CDU-Basis denkt offenbar konservativer, als es manchem Spitzenpolitiker lieb ist.

Auf dem Parteitag in Hannover hatte Wüst übrigens in die Debatte um die Frauenquote eingegriffen – zu Gunsten der Einschränkung des parteiinternen Wettbewerbs unter geschlechtsspezifischen Aspekten. Was er seitdem aber offenbar vergessen hat: Derselbe Parteitag hat den alten Dreiklang bekräftigt. So heißt es in der neuen Grundwerte-Charta der CDU: „Auf der Basis des christlichen Menschenbildes vereint die CDU christlich-soziale, liberale und konservative Haltungen und Anliegen. Sie sind die Wurzeln für das Selbstverständnis der Union. Sie immer wieder miteinander in Einklang zu bringen, führt zu einer Politik von Maß und Mitte.“

Halten wir also fest: Für Hendrik Wüst gehört das Konservative nicht zum Markenkern seiner Partei, obwohl diese die „konservative Haltungen und Anliegen“ als eine ihrer Wurzeln ansieht. Womit, wer will, eine neue Debatte eröffnen kann – über den Unterschied von Markenkern und Wurzeln. Da gilt dann: Sprachforscher an die Front – Politiker wegtreten.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 25. September 2022)


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