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Nackenschlag für Geringverdiener: Ampel schenkt Hartz-IV-Beziehern Freifahrtschein
„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, heißt es bei Goethe. Der Dichterfürst fordert die Menschen also zu einem bestimmten, zu einem besseren Verhalten auf. Die Ampel-Koalition geht hingegen davon aus, dass die Menschen - jedenfalls die Hartz IV-Bezieher unter ihnen - gar nicht erst edel und gut werden müssten. Ihnen wird von Staats wegen korrektes, regelkonforme Verhalten unterstellt. Deshalb werden Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger, die partout nicht mit der Arbeitsagentur kooperieren wollen, weitgehend ausgesetzt.
Die neue Regelung gilt zunächst für ein Jahr. Bis dahin will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) das Hartz IV genannte Arbeitslosengeld II durch ein Bürgergeld ablösen. Man muss kein Prophet sein, um sich vorzustellen, wie diese Sozialleistung ausgestaltet sein wird: deutlich höhere Regelsätze und weniger strikte Bedingungen für ihren Bezug. Das Bürgergeld läuft auf das hinaus, was Grüne und Teile der SPD schon seit langem fordern: ein mehr oder weniger bedingungsloses Grundeinkommen.
Fazit des Ex-BA-Chefs: verheerend
Wer sich bisher weigerte, Gesprächstermine im Jobcenter wahrzunehmen, musste mit einer Kürzung des Regelsatzes von 449 Euro um bis zu 30 Prozent rechnen. Nach den jetzt geltenden Vorschriften passiert erst einmal nichts, wenn ein Leistungsbezieher nicht zum Termin erscheint. Erst wenn er auch auf die zweite Einladung nicht reagiert, werden ihm 10 Prozent abgezogen. Das wars dann. Bisher drohten auch Kürzungen, wenn ein Hartz IV-Empfänger eine zumutbare Beschäftigung oder eine Umschulung ablehnte. Das fällt jetzt völlig weg.
Heinrich Alt, bis 2015 Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit, hat die neuen Lockerungen jetzt scharf kritisiert, vor allem mit Blick auf die vielen Migranten unter den Hartz IV-Empfängern. Denen wird, so Alt, Folgendes signalisiert: „Ihr kriegt euer Geld ohne jede Verpflichtung. Ihr müsst nicht den Deutschkurs besuchen, ihr müsst euch nicht beruflich qualifizieren, ihr müsst keine Arbeit aufnehmen.“ Fazit des Sozialdemokraten Alt: „Das ist verheerend.“
Abschied vom „Fordern“
Mit dem Aussetzen nennenswerter Sanktionen nimmt die Ampel Abschied vom Grundprinzip des „Fördern und Fordern“, der Basis der Arbeitsmarktreformen im Rahmen der von rot-grünen „Agenda 2010“-Politik. Der Grundgedanke: Wer Leistungen auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler erhält, muss auch eine Gegenleistung erbringen, nämlich sich ernsthaft um Arbeit bemühen, sich umschulen oder qualifizieren lassen. Damit ist unter Rot-Grün-Gelb Schluss: Die Finanziers des Sozialstaats, also der arbeitende Teil der Bevölkerung, hat zu zahlen. Die Begünstigten hingegen haben keinerlei Verpflichtung, sich um eine Verbesserung ihrer Lage zu bemühen.
Die Beschränkung auf Mini-Sanktionen ist nicht die einzige „Reform“ zugunsten von Hartz IV-Empfängern. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist es ohnehin leichter geworden, Leistungen von der Arbeitsagentur zu beziehen. So werden die Vermögensverhältnisse nicht mehr sorgfältig überprüft. Außerdem übernimmt das Amt die Miete unabhängig davon, wie groß oder wie teuer die Wohnung ist. Man sieht: Die Gießkanne ist bereits zu einem wichtigen Instrument der Sozialpolitik geworden.
Rot-grünes Ziel: bedingungsloses Grundeinkommen
Diese deutliche Abkehr von den Schröderschen Arbeitsmarktreformen wird von SPD und Grünen aus unterschiedlichen Motiven, aber mit gleicher Intensität betrieben. Die SPD will endlich die ungeliebten Hartz IV-Gesetze hinter sich lassen und auf diese Weise der Linkspartei das Wasser abgraben. Die Grünen wiederum sind schon länger Befürworter eines Grundeinkommens, das jedermann erlaubt, nach Lust und Laune zu entscheiden, ob er einer regulären Arbeit nachgeht oder nicht.
Was Grüne und Sozialdemokraten vorhaben, ist klar. Aber in der Ampel geht nichts ohne die FDP. Die hat als Preis fürs Mitregieren unter anderem bereits der Einführung eines politischen Mindestlohns zugestimmt, dessen Höhe sich stärker an den politischen Mehrheitsverhältnissen als an ökonomischen Fakten orientiert. Das Bürgergeld steht ebenfalls im Koalitionsvertrag, aber nicht genau, wie es ausgestaltet werden soll. Da könnte auf die Ampel ein großer Konflikt zukommen, jedenfalls dann, wenn die FDP hier ihren Prinzipien treu bleibt.
Der Idealbürger taugt nicht als Maßstab
Sozialdemokraten und Grüne jedenfalls, einst Erfinder der Hartz-Gesetze, gehen inzwischen von der idealistischen Annahme des „edlen, hilfreichen und guten“ Menschen aus. Dieser Idealbürger muss nicht gefordert werden, weil er stets danach strebt, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Auch käme er nie auf den Gedanken, sich Sozialleistungen zu erschleichen. Nur schade, dass die Menschen so nicht ticken, dass viele der Versuchung nicht widerstehen können, sich auf Kosten des Staates, also der Allgemeinheit, Vorteile zu verschaffen.
Das Prinzip, „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, ist für einen funktionierenden Sozialstaat unabdingbar. Nur staatliche Kontrolle kann verhindern, dass die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht die Ausnahme bleibt, sondern zur Regel wird. Wer das für „neoliberale Kälte“ hält, sollte eine Umfrage des Jobcenters Recklinghausen zur Kenntnis nehmen. Danach waren 38 Prozent der befragten Hartz IV-Empfänger gegen Sanktionen bei Fehlverhalten - aber 46 Prozent dafür. Offenbar schätzen die Betroffenen die Lage realistischer ein als viele Sozialromantiker.
(Veröffentlicht auf www.focus.de am 25. Mai 2022)
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