02.04.2020

Die Stunde der Staatswirtschaftler

Niemand weiß, wie lange die Corona-Pandemie unser Leben noch bestimmen wird. Niemand kann sagen, ob wir den Krieg gegen das Virus gewinnen. Vollständig besiegen können wir es ohne einen Impfstoff sicher nicht. Aber ein „Waffenstilstand“ wird uns hoffentlich gelingen. Den hätten wir dann erreicht, wenn sich die Ausbreitung deutlich verlangsamt und die Zahl der Geheilten die der Neuinfizierten mit zunehmender Geschwindigkeit übersteigt.

Das Virus hat bereits vieles verändert und wird seine Spuren hinterlassen – gesellschaftlich, politisch und vor allem wirtschaftlich. Mit jedem Tag wächst ja die Zahl derer, die „die Globalisierung“ und „den Kapitalismus“ für den Ausbruch der Pandemie verantwortlich machen. Das muss man nicht weiter ernst nehmen. Kein vernünftiger Mensch will zurück in eine längst vergangene Welt, als andere Länder und Kontinente für die Masse der Menschen unerreichbar fern waren. Und was den Kapitalismus angeht, so wird niemand ernsthaft behaupten wollen, ausgerechnet das kommunistische China, das Mutterland des Virus, stehe für eine Wirtschaftsordnung mit Privateigentum an Produktionsmitteln und der Steuerung von Produktion und Konsum über den Wettbewerb. Nur wer den Kapitalismus mit seiner hässlichen Spielart des Manchesterkapitalismus gleichsetzt – nämlich Ausbeutung und Unfreiheit der werktätigen Massen – wird im Reiche Xi Jingpings fündig.

Nun gibt es durchaus seriöse Politiker und Ökonomen, die weder die Reisefreiheit noch das Privateigentum abschaffen wollen, gleichwohl aber „nach Corona“ bei uns einiges grundlegend verändern möchten. Die Richtung dieser „Staatswirtschaftler“ ist eindeutig: mehr Staat, weniger Markt, weniger internationale Arbeitsteilung. Die Diskussion darüber hat bereits begonnen. Man muss also kein Prophet sein, um sich auf eine scharfe ordnungspolitische Auseinandersetzung nach Überwindung der Pandemie einzustellen. Und man braucht keine allzu große Phantasie, um sich die Argumente derer vorherzusagen, die für eine grundlegend andere Politik eintreten. Hier die wichtigsten Vorwürfe der „Staatswirtschaftler“:

„Der Markt hat versagt“

Es trifft zu, dass es an Gesichtsmasken, an Schutzkleidung, an Beatmungsgeräten mangelt. Aber was hat das mit dem Markt zu tun? Wenn bereits vor zwei, drei Jahren mit dem Ausbruch einer solchen Pandemie zu rechnen gewesen wäre, hätte die deutsche Wirtschaft mühelos produziert, was wir brauchen. Aber niemand produziert mehr als er absetzen kann.

Dem Markt ist ebenso wenig anzulasten, dass die staatlichen Stellen die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Corona-Virus und seine Gefährlichkeit noch im Januar völlig unterschätzt haben. Auch hat nicht „der Markt“ zugelassen, dass bis in die letzten Tage noch Passagiere aus Hochrisikoländern hier ungehindert landen konnten. Die völlig unzureichende Überprüfung von Einreisenden an Grenzen und Flughäfen hat ebenfalls mehr mit Staatsversagen als mit Marktversagen zu tun. Tatsache ist: Die Größe der Herausforderung ist von den meisten nicht erkannt worden – leider auch nicht vom Staat.

„Der Neoliberalismus hat das Gesundheitssystem beschädigt“

Wir hoffen, dass es nicht so weit kommt. Aber unser Gesundheitssystem kann an seine Grenzen stoßen, wenn es nicht gelingt, die Zunahme der Zahl der Infizierten deutlich und anhaltend zu verlangsamen. Sollte die Katastrophe eintreten, dann ist die Schuldfrage aus linker Sicht bereits geklärt: die Privatisierung im Gesundheitswesen. Das ist schon insofern irreführend, weil die meisten Krankenhäuser in öffentlicher Hand sind und kein Wirtschaftszweig so stark reguliert ist wie das Gesundheitswesen. Zweifellos ist in den Krankenhäusern in den letzten zwei Jahrzehnten kräftig gespart worden – in den staatlichen wie in den privaten. Doch geht es den vielen kommunalen und universitären Kliniken sicher nicht um Profitmaximierung. Deren Sparpolitik ist das Ergebnis politischer Vorgaben: Die Politik wollte den Anstieg der Kassenbeiträge dämpfen, und die Kassen gaben dies in Form strenger Auflagen an die Krankenhäuser weiter. Man kann der Meinung sein, der Staat habe es mit den Sparbemühungen im Gesundheitswesen übertrieben. Nur: Mit Marktversagen hat das nichts zu tun. Übrigens: Das verstaatlichte britische Gesundheitssystem wird mit Corona zweifellos nicht besser fertig als das deutsche.

„Streben nach Shareholder-Value macht uns vom Ausland abhängig“

Unsere Industrie ist aufgrund der Verlagerung von großen Teilen der Produktion ins Ausland, nicht zuletzt nach Fernost, verwundbar geworden. Eine Unterbrechung der Lieferketten, ganz gleich wo, stoppt schnell die Produktion. Auch wenn niemand mit einer Pandemie dieses Ausmaßes rechnen konnte, werden viele Unternehmen die Struktur ihrer Lieferanten überdenken und wohl ihre Abhängigkeit von einzelnen Ländern verringen. Aber wenn beispielsweise die Automobilindustrie schon jetzt mehr Vorprodukte und Teile aus anderen europäischen Ländern bezöge, müssten jetzt ebenfalls viele Bänder stillstehen. Bei einer weltweiten Pandemie bietet regionale Diversifikation nur bedingt Schutz.

Die Abhängigkeit von ausländischen Produzenten wird gerade bei Medikamenten deutlich. Dass Deutschland schon lange nicht mehr die Apotheke der Welt ist und lebenswichtige Wirkstoffe fast ausschließlich aus China und Indien kommen, ist zweifellos das Ergebnis unternehmerischer Entscheidungen. Nur darf dabei nicht der Einfluss der staatlichen Gesundheitspolitik übersehen werden. Wenn die Krankenkassen aufgrund politischer Vorgaben bei Medikamenten die Preise ständig drücken, darf sich niemand wundern, dass die pharmazeutische Industrie immer stärker nach Fernost ausweicht.

„Die Armen müssen am meisten leiden“

Niemand kann übersehen, dass durch die Schließung von Produktionsstätten, kulturellen Einrichtungen und Gastronomiebetrieben diejenigen besonders zu leiden haben, die wirtschaftlich ohnehin nicht auf der Sonnenseite angesiedelt sind: Teilzeitbeschäftigte, Alleinerziehende, Mindestlohnbezieher. Auch kommen viele Kurzarbeiter in Bedrängnis, wenn der Arbeitgeber die 60 beziehungsweise 67 Prozent von der Arbeitsagentur nicht aufstockt. Der deutsche Sozialstaat hilft umfangreicher als andere Länder das können, nicht zuletzt deshalb, weil dank der seit fünfzehn Jahren praktizierten soliden Haushaltspolitik erhebliche finanzielle Spielräume bestehen. Aber der Staat kann keine Wunder vollbringen. Jedenfalls geht es denen am unteren Ende der sozialen Skala in der „kapitalistischen Bundesrepublik“ besser als in anderen Ländern, wo der Staat noch mehr regelt als bei uns.

Gleichwohl ist die Coronakrise für Sozialisten – ob mit rotem, dunkelrotem oder grünem Parteibuch – ein willkommener Anlass, eine Erhöhung sozialer Leistungen zu fordern. Da Hartz IV derzeit – aus guten Gründen – ohne Bedürftigkeitsnachweis bewilligt wird, wird es großer Kraftanstrengungen bedürfen, diese Tür wieder zu schließen. Auch steht zu befürchten, dass die Grundrente von Januar an ohne die beschlossene Einkommensprüfung ausgezahlt wird, weil die Behörden diese aufwendigen Berechnungen ohnehin kaum schaffen werden und die Folgen von Corona diese Großzügigkeit angeblich rechtfertigen.

Nur eines ist sicher: Der Ruf nach höheren Steuern

Noch wissen wir nicht, wie lange der unvermeidliche konjunkturelle Einbruch anhalten, welche sozialen Verwerfungen diese schwere Rezession mit sich bringen, wie lange die Erholungsphase dauern und wie hoch dann die Staatsverschuldung sein wird. Aber die „Staatswirtschaftler“ kennen schon die Lösung: höhere Steuern und vor allem eine Vermögensabgabe. Das freilich überrascht nicht. Niemals hat es eine Zeit gegeben, ob Boom oder Krise, in der staatsgläubige Politiker nicht nach einer höheren Besteuerung der „Reichen“ gerufen hätten. Bei allen Ungewissheiten, die mit der Pandemie verbunden sind, bleiben wenigstens die Rezepturen der „Staatswirtschaftler“ berechenbar.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 1. April 2020)


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