20.11.2019

Die Grünen wollen sich ins Kanzleramt hineinkuscheln

„Kuschelkurs“ ist das Grünen-Wort der Stunde. Kaum ein Kommentator des Grünen-Parteitags vom Wochenende, der es nicht verwendet. Denn die Öko-Partei will seit der Abwahl der rot-grünen Koalition vor 14 Jahren endlich wieder im Bund regieren - am liebsten recht bald, spätestens aber 2021.

Das Kuscheln betrifft den innerparteilichen Umgang. Alle haben sich lieb. Fundis und Realos, einst erbitterte Gegner, sind kaum noch auszumachen. Da sind sich man/frau/divers einig: Bei der nächsten Bundestagswahl lockt dank des Klimawandels eine kräftige Öko-Dividende. Die haben sich die Grünen zweifellos verdient. Sie haben am Thema Umwelt und Klima vier Jahrzehnte lang festgehalten, unabhängig, wie populär es gerade war.

Einen Kuschelkurs verfolgen die Grünen auch gegenüber den neu gewonnenen Wählern und Sympathisanten, die früher ihr Kreuz bei CDU oder SPD gemacht haben. Darunter sind viele „Besserverdienende“, denen an einer vernünftigen Klimapolitik mehr liegt als einer aggressiven Umverteilung oder einem rigorosen Pazifismus. Ihnen kommen die Kuschel-Grünen entgegen, indem sie nur ganz leise von der Enteignung von Wohnungseigentümern sprechen - als letztem Mittel.

Die Grünen wollen unbedingt regieren, doch verraten sie partout nicht, mit wem. Schließlich sollen bürgerliche Öko-Anhänger nicht von der Aussicht auf Grün-Rot-Rot oder notfalls Rot-Rot-Grün abgeschreckt werden. Allerdings werden die Grünen, falls sie die freie Wahl haben, eher zu einem Bündnis mit SPD und Linken tendieren als zu einer Koalition mit CDU/CSU, mit oder ohne Einschluss der FDP. Dafür gibt es einen ganz pragmatischen Grund. Ungeachtet ihres derzeitigen Höhenflugs ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Grünen bei der nächsten Wahl vor der SPD landen, größer ein Überholen der CDU/CSU. Falls das Kanzleramt lockt, kennen auch die Grünen keine Wunschpartner mehr, sondern nur noch Mehrheitsbeschaffer.

Bei den Inhalten stehen die Grünen ohnehin der SPD und den Linken näher als der Union. Der ökologische Umbau der Wirtschaft, mehr Umverteilung, eine noch stärkere Regulierung des Wohnungsmarkts, höhere Sozialleistungen für mehr Menschen - dies alles liesse sich aus grüner Sicht leichter mit zwei roten Partnern durchsetzen. Dasselbe gilt für eine Flüchtlingspolitik ohne „inhumane“ Restriktionen.

Die Grünen sind so stark wie noch nie, nicht zuletzt deshalb, weil CDU/CSU und SPD mehr denn je schwächeln. Aber im Bundestagswahlkampf - wann immer er stattfinden wird - werden sie sich der Frage stellen müssen, ob sie eher zum Öko-Sozialismus oder zu einer ökologisch justierten Marktwirtschaft neigen. Spätestens dann ist es vorbei mit dem Kuscheln.

Veröffentlicht auf www.focus.de am 18. November 2019.


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