05.08.2019

Das Wahlverfahren der SPD: demokratisch, frauenfördernd – und abschreckend

Wenn die SPD etwas perfekt beherrscht, dann die Beschäftigung mit sich selbst. Das gilt nicht nur für die Flügelkämpfe innerhalb des Funktionärskaders, bei denen fast jeder Parteivorsitzende und Kanzler schwer beschädigt oder völlig aufgerieben wird. Das trifft ebenso auf das Organisieren innerparteilicher Entscheidungsprozesse zu. Keine Partei ist bei Mitgliederentscheiden so erfahren wie die SPD. Das Wissen um Schlitzmaschinen, die in der Stunde 20.000 Briefe öffnen können, wäre ohne SPD-Mitgliederentscheide nicht weit verbreitet. Keine andere Partei nimmt auch ihre eigenen Beschlüsse so ernst. Die Beschlusslage ist heilig, mag sie auch noch so wirklichkeitsfern sein.

Wie schnell die SPD sich selbst organisieren kann, hat der Parteivorstand nach der wenig solidarischen Abhalfterung von Andrea Nahles eindrucksvoll demonstriert. In kürzester Zeit stand der Fahrplan für die Wahl der neuen Parteispitze fest – mit allen notwendigen Fristen und Quoren, bis hin zur Zahl der Regionalkonferenzen für die Kandidaten-Duelle. Dennoch hat sich die Partei in eine Falle manövriert. Weil Doppelspitzen als modern gelten und eine Führung ohne weibliches Mitglied angeblich nicht zeitgemäß ist, hat die SPD die Weichen für ein Duo an der Parteispitze gestellt. Theoretisch können Männer oder Frauen auch als Einzelkandidaten antreten. Aber welcher Mann will im Zeitalter der allumfassenden „Genderisierung“ noch als unbelehrbarer Macho gelten.

Mit der Doppelspitze hat die SPD eines ihrer ehernen Gesetze außer Kraft gesetzt: Das Recht des Vorsitzenden, die Kanzlerkandidatur für sich zu reklamieren. Dass Sigmar Gabriel zwei Mal zu feige war, selbst zuzugreifen, steht auf einem anderen Blatt. Künftig wird es so sein, dass zwei Vorsitzende gar nicht das Erstzugriffsrecht ausüben können; eine Kanzlerkandidatur im Doppelpack ist nicht denkbar. Woraus wiederum folgt, dass die neuen SPD-Vorsitzenden bei der Frage der Kanzlerkandidatur zwar ein entscheidendes Wort mitsprechen, diese Position aber nicht für sich reklamieren können. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Wer die SPD in die nächste Bundestagswahl führen will, muss nicht zwangsläufig Parteivorsitzender werden.

Bei einer Doppelspitze bleibt die K-Frage offen

Das erklärt, warum Finanzminister Olaf Scholz nicht daran denkt, sich in die innerparteiliche Schlacht zu stürzen. Die fehlende Verbindung von Vorsitz und Spitzenkandidatur ließ die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, ebenfalls abwinken. Das Zögern des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil folgt demselben Muster: Warum sich um den Parteivorsitz bemühen, wenn man auf anderem Weg Spitzenkandidat werden kann?

Die SPD steckt also in einer Doppel-Falle: Doppelspitze und Frauenquote. Das Ergebnis ist ein Bewerberfeld aus Genossinnen und Genossen aus der zweiten und dritten Reihe. Genau genommen gibt es nur ein echtes Kandidaten-Paar: Europa-Staatsminister Michael Roth (48) und die NRW-Landtagsabgeordnete Christina Kampmann (39). Die haben nämlich einen Bezirk – Hessen-Nord – hinter sich und dürfen sich deshalb auf alle Fälle dem Mitgliedervotum stellen. Das trifft für die beiden anderen „Pärchen“ nicht zu. Der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (56) und seine MdB-Kollegin Nina Scheer (47) sind bisher nur Bewerber um eine Kandidatur. Dasselbe gilt für die beiden Oberbürgermeister Simone Lange (Flensburg/42) und Alexander Ahrens (Bautzen/53)). Sie alle brauchen noch die Unterstützung eines Landesverbandes, eines Bezirksverbandes oder von fünf Unterbezirken, um es überhaupt auf den Stimmzettel zu schaffen.

Die „Lautsprecher“ Stegner und Kühnert sind auffällig leise

Interessant ist, dass zwei „Lautsprecher“, die ständig der Partei und der Welt erklären, wie die SPD als linker Phoenix aus der Asche auferstehen könnte, sich im Kandidatenpoker ganz still verhalten: Der in Schleswig-Holstein nicht gerade erfolgreiche SPD-Vize Ralf Stegner (59) und der in den Medien als Zukunftshoffnung hochgejubelte Juso-Anführer Kevin Kühnert (30). Wer die Öffentlichkeit gerne wissen lässt, was die Partei ihrer Meinung nach tun könnte/sollte/müsste, der dürfte sich eigentlich nicht verweigern, wenn eine neue starke Spitze gesucht wird. Das Duo Stegner/Kühnert wäre insofern ein Traumpaar, als die Beiden für einen klaren Kurs stünden: für Staatsinterventionismus, Sozialisierung, eine Sozialpolitik mit der Gießkanne, einen Feldzug gegen „die Reichen“ und außenpolitisch für eine Äquidistanz zu den Vereinigten Staaten wie zu Russland – voller Verachtung für Trump und voller Verständnis für Putin.

Eine männliche Doppelspitze hätte natürlich keine Chance, nicht wegen der Inhalte, sondern wegen des fehlenden feministischen Images. Stegner wie Kühnert müssen sich, falls sie nicht kneifen wollen, auf Brautsuche machen. Kühnert bräuchte eine gestandene Politikerin an seiner Seite; aus ideologischer Sicht käme da Hilde Mattheis (64) von der „Demokratischen Linken“ in der SPD in Frage. Stegner hingegen müsste sich nach der geltenden SPD-Logik eine jüngere Frau suchen. Da könnte Kühnerts Vorgängerin bei den Jusos, Johanna Ueckermann (31), ganz gut passen.

Warum nicht Giffey/Klingbeil?

Wer es freilich gut meint mit der SPD, wer überzeugt ist, das Land brauche eine starke, regierungswillige Sozialdemokratie, dem fallen Familienministerin Franziska Giffey und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil ein als Bewerber. Giffey hat als Bürgermeisterin im Berliner Problemkiez Neukölln erfahren, dass es gerade die abgewanderten und noch verbliebenen SPD-Wähler sind, die vom Staat nicht nur Fördern, sondern auch Fordern erwarten – auf dem Arbeitsmarkt wie gegenüber Zugewanderten. Als Bundesministerin hat sie praktische, handfeste Politik gemacht – ohne ideologisches Geschwurbel.

Auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil gehört zu den Sozialdemokraten, die noch wissen, wie die Menschen „ticken“. Sonst hätte er bei der letzten Bundestagswahl seinen schwierigen niedersächsischen Wahlkreis nicht gegen den Trend gewonnen. Giffey und Klingbeil könnten unter der Bedingung „Doppelspitze-Frauenquote“ eine passable SPD-Spitze abgeben. Dass Giffey nicht weiß, ob ihr der Doktortitel aberkannt wird oder nicht, ist dabei ein nachrangiges Problem. Die Masse der Wähler interessiert es nicht, ob jemand vor zig-Jahren bei einer wissenschaftlichen Arbeit alle Zitierregeln korrekt eingehalten hat. Denn anders als im Falle des Oberplagiators Karl-Theodor zu Guttenberg, hat Giffey – nach allem was man weiß – Fehler gemacht, aber nicht plump abgeschrieben. Eines steht fest: Die SPD hat ein fast perfektes Auswahlverfahren für die Wahl der Nahles-Nachfolger gefunden. Es garantiert Transparenz, echte innerparteiliche Demokratie, und passt sich dem Zeitgeist gleich auf zweifache Weise an – durch die Möglichkeit zur Doppelspitze und die Etablierung einer Frauenquote bei jeder Tandem-Lösung. Der organisatorische Coup hat nur einen kleinen Nachteil: Er schreckt Bewerber aus der ersten Reihe offenbar ab.

Veröffentlicht auf www.focus.de am 5. August 2019.


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