11.07.2019

Sozialdemokraten und Grüne handeln nach dem Prinzip: Erst die Partei, dann Europa

Da braucht man nicht lange drum herumreden: Die Nominierung Ursula von der Leyens für das Amt des Kommissionspräsidenten durch die EU-Regierungschefs war keine Sternstunde der Demokratie. Ein Selbstläufer ist die Kandidatur der deutschen Verteidigungsministerin auch nicht; gut möglich, dass sie in der nächsten Woche die notwendige Mehrheit nicht zusammenbekommt. Aber mit den Schuldzuweisungen ist das so eine Sache. Dazu ein paar Bemerkungen:

Spitzenkandidatenprinzip: Die Nominierung von Spitzenkandidaten durch die europäischen Parteienfamilien ist vernünftig, wenn die Europawahl mehr sein solle als separate Abstimmungen in 28 Ländern. Wenn das Parlament jedoch darauf beharrt, dass nur ein Spitzenkandidat auch Kommissionspräsident werden darf, dann muss es sich eben darauf einigen, wer das werden soll. Hätte das Parlament klare Signale für Manfred Weber (Europäische Volkspartei/EVP), Frans Timmermans (Sozialisten/Sozialdemokarten) oder Margrethe Vestager (Liberale) ausgesendet, hätten die im Europäischen Rat versammelten Staats- und Regierungschefs nicht nein sagen können.

Anybody but Weber: Nirgends steht geschrieben, dass der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion Kommissionspräsident werden muss. Hätten Sozialisten und Grüne im Parlament die notwendige Mehrheit für Timmermans oder Vestager zustande gebracht, hätte der Rat das wohl oder übel akzeptieren müssen. Aber Rote, Grüne und Liberale haben sich verzockt. Kaum waren die Wahllokale geschlossen, verkündeten sie, Weber dürfe auf keinen Fall an die Spitze der Kommission kommen. Dass die EVP-Fraktion als stärkste Gruppierung sich nach dieser Brüskierung auf keinen Deal mit den schwächeren Fraktionen einlassen würde, war abzusehen. Das Ziel von Sozialisten, Grünen und Liberalen war offenkundig, in jedem Fall Weber zu verhindern. In der „Anybody but Weber“-Bewegung marschierten die deutschen SPD-Abgeordneten vorneweg – stark geschrumpft, aber lautstark. Beim Blick durch parteipolitische Brillen verschwand das Spitzenkandidatenprinzip aus dem Blickfeld.

Schwaches Parlament, starker Rat: Das Spitzenkandidatenprinzip konnte vom Rat so rigoros ausgehebelt werden, weil ein Teil des Parlaments selbst davon abgerückt ist. Da mögen die EU-Abgeordneten noch so sehr die demokratischen Defizite innerhalb der EU beklagen: Wer sich selbst schwächt, darf sich nicht wundern, wenn andere stärker werden.

Parteibuch schlägt Geschlecht: Positiv an dem ganzen Gerangel ist, dass der Frauenfaktor keine ausschlaggebende Rolle spielt. Wie hätte manche Berufs-Feministin bei Sozialdemokraten und Grünen früher gejubelt, wenn endlich eine Frau für das wichtigste Amt in der EU vorgeschlagen worden wäre: „Hauptsache ein Frau“. Von der Leyen ist zwar zweifellos eine Frau, aber halt in der falschen Partei. Daran wird man Sozialdemokraten und Grüne bei Gelegenheit erinnern dürfen.

Veto-Macht ist keine Gestaltungsmacht: Falls Ursula von der Leyen am kommenden Dienstag nicht gewählt wird, ändert das nichts an den anderen Personalvorschlägen der Regierungschefs. Uns steht dann eine handfeste institutionelle Krise ins Haus, die die EU in den Augen der Bürger nicht attraktiver macht. Timmermans oder Vestager hätten auch in diesem Fall keine Chance auf das Amt. Die Regierungschefs würden dann wohl einen anderen Politiker aus den Reihen der Europäischen Volkspartei vorschlagen. Unter Umständen geht Deutschland dann bei den Spitzenpositionen in der EU völlig leer aus. Ob es das ist, was SPD und Grüne letztlich wollen?

Eine heimliche Agenda der SPD: Die Sozialdemokraten liefern sich zurzeit einen harten Kampf mit der AfD um den dritten Platz im Parteisystem – in der Größenordnung von 12 bis 13 Prozent. Wer in solchen Schwierigkeiten steckt, der neigt zu Verzweiflungstaten. Gut möglich, dass die SPD insgeheim darauf spekuliert, dass von der Leyen gewählt wird – mit einer Mehrheit von Europäischer Volkspartei, Liberalen und Konservativen. Dann bliebe Europa eine Krise erspart. Doch die SPD würde von Stund‘ an mit der Behauptung durch die Lande ziehen, die CDU-Politikerin verdanke ihr Amt letztlich den Stimmen der Rechtskonservativen und Nationalisten aus Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Staaten. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, mit welcher Begeisterung SPD-Funktionäre, von den Medien kräftig unterstützt, die Kommissionspräsidentin und damit die CDU bräunlich anzustreichen versuchten.

Fazit: Das Europäische Parlament hat es selbst versäumt, dem Spitzenkandidatenprinzip zu folgen. Das hat Europa geschadet. Der Schaden wäre noch größer, wenn es jetzt zu einer Lähmung der EU aufgrund eines Konflikts zwischen Parlament und Rat käme. Festzuhalten bleibt, dass bei den deutschen Sozialdemokraten und deutschen Grünen parteipolitische Überlegungen alles andere verdrängen. Und die nicht gerade vielen EU-Abgeordneten der SPD verhalten sich wie Kinder am Strand: Weil es nicht gelungen ist, die höchste Sandburg zu bauen, macht man halt die Burgen der anderen platt.

Veröffentlicht auf www.tichyseinblick.de am 12. Juli 2019.


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