08.06.2019

Ohne Kompromisse geht es einfach nicht

Die Große Koalition gibt kein gutes Bild ab: eine lustlos agierende Kanzlerin, eine tief zerstrittene SPD, eine ihren Kurs suchende CDU. Daneben wirken die Grünen wie Lichtgestalten, die das Paradies auf Erden herbeizaubern könnten, wenn man sie nur ließe. Unabhängig von den Verschleißerscheinungen und personellen Querelen bei den Regierungsparteien haben die Grünen einen entscheidenden Vorteil: Sie können im Bund fordern und versprechen, was sie wollen – umsetzen müssen sie es nicht. Das ist eben das Schöne an der Oppositionsrolle: man muss keine Kompromisse eingehen. Der Kompromiss ist aber der Preis, den jede Regierungspartei zahlen muss, jedenfalls dann, wenn sie nicht über die absolute Mehrheit verfügt.

Kompromisse werden von den Wählern nicht sonderlich geschätzt; ihnen haftet das Adjektiv „faul“ an. Dabei ist der Kompromiss die Grundlage der parlamentarischen Demokratie. Schon innerhalb der Parteien geht es nicht ohne Kompromisse zwischen den verschiedenen Flügeln und Strömungen. Wenn eine Partei dann regiert, muss sie sich mit Koalitionspartnern arrangieren. Selbst wenn das im Großen und Ganzen gelingt, kann eine Koalition nicht einfach durchregieren, weil sie in vielen Fällen nicht nur im Bundestag, sondern auch im Bundesrat eine Mehrheit braucht. Dazu muss sie sich mit den Ländern einigen, also wiederum Kompromisse schließen.

Die Mehrheit der Wähler sieht das anders. Man wählt eine Partei und erwartet, dass sie nach der Wahl tut, was sie vorher versprochen hat. Das ist verständlich, aber nicht realistisch. Denn absolute Mehrheiten sind bei unserem Wahlsystem praktisch unmöglich. Im Bund gab es das nur ein einziges Mal – 1957. Da verfügte die Union über die absolute Mehrheit der Mandate; aber genaugenommen waren das auch zwei Parteien, nämlich CDU und CSU. Wenn aber zwei oder gar drei Parteien miteinander koalieren, muss jeder der Beteiligten Lösungen mitttragen, die zu verhindern er seinen Wählern eigentlich versprochen hatte. Zwei Beispiele: Die CDU/CSU konnte sich in den Koalitionsverhandlungen mit ihrer Forderung, den Soli vollständig abzuschaffen, bei der SPD nicht durchsetzen. Umgekehrt mussten die Sozialdemokraten eine Aufstockung der Mütterrente schlucken. Keine der Parteien ist damit glücklich. Aber ohne Kompromisse wie diesen wäre eine Regierungsbildung nicht möglich gewesen.

Gegenüber mühselig ausgehandelten Lösungen, gegenüber einem ständigen Geben und Nehmen zwischen den Regierungsparteien, wirken kompromisslose Forderungen wie „Kohleausstieg jetzt“ oder „CO2-Steuer sofort“ ungleich attraktiver. Da wird suggeriert, man brauche nur auf einen Knopf zu drücken, und schon wäre der Klimawandel gestoppt. Eine Oppositionspartei kann so reden, Demonstranten dürfen das plakativ vortragen. Die Regierenden müssen aber stets beachten, dass jede einschneidende Maßnahme beim Klimaschutz erhebliche wirtschaftliche und soziale Folgen nach sich zieht. Am Ende stehen dann Kompromisse, denen der Charme der Sofortlösung fehlt.

Die Wähler erwarten von der Politik etwas, was ihnen selbst im Alltag nicht gelingt. Wenn ein Teil der Familie den Urlaub am Meer verbringen will, der andere aber im Hochgebirge, muss man sich auch einigen. Möglichkeit 1: in diesem Jahr ans Meer, im nächsten in der Berge. Möglichkeit 2: Urlaub an einem See im Mittelgebirge. In der Politik landet man meistens bei der zweiten Lösung, weil eine Koalition schlecht in die Verteidigungspolitik ganz der Partei A und die Wirtschaftspolitik allein der Partei B überlassen kann. Also einigt man sich auf ein Vorgehen, das von allen Beteiligten mitgetragen und gegenüber den eigenen Wählern mitverantwortet werden kann.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Unsere Demokratie lebt von Kooperation und Koalitionen; ohne Kompromisse würde unser politisches System nicht funktionieren. Das wirkt nicht immer sexy, und mancher Kompromiss verdient auch das Prädikat faul. Man muss aber auch wissen: Ein besseres System gibt es nicht.

Veröffentlicht auf www.focus.de am 6. Juni 2019.


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