21.03.2017

Gerechtigkeit, Respekt, Würde – und 108 Mal „ICH“

Wer den Nach-Rausch der Schulz-Krönungsmesse vom vergangenen Sonntag genießen möchte, der muss nur auf www.spd.de klicken. Dort strahlt einem Sankt Martin entgegen und schreit einen die Schlagzeile regelrecht an: „100 Prozent Gerechtigkeit.“ Da kommt man sofort ins Grübeln: Wie misst man eigentlich Gerechtigkeit in Prozent? Bedeuten 80 Prozent Gerechtigkeit schon Ungerechtigkeit? Vor allem aber: Was kann Politik noch leisten, wenn das Plansoll 100 Prozent Gerechtigkeit erfüllt sein sollte? Fragen über Fragen – doch damit lassen Martin Schulz und seine Sozialdemokraten uns leider allein.

In einem Punkt herrscht jedenfalls Klarheit: Der SPD-Dreisatz lautet in Woche 8 nach der Schulzschen Thronbesteigung Gerechtigkeit, Respekt und Würde. Zugegeben, von Gerechtigkeit und Würde haben auch andere Kanzlerkandidaten der Sozis schon gesprochen. Aber keiner intoniert das mit so viel Schmelz in der Stimme wie der neue „Gottkanzler“. Gleich 15 Mal kam in seiner Sonntags-Predigt Gerechtigkeit vor, auch 15 Mal war von Respekt die Rede. Die Würde schnitt da mit 4 Mal etwas schlechter ab. Doch Letzteres war sicher eher Zufall.

Schulz kämpft für Gerechtigkeit, es soll bei uns gerechter zugehen, auch für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung wird der Heilsbringer aus Würselen sorgen. Ein Stück gerechter soll Deutschland werden, selbst die Infrastruktur ist laut Schulz eine Gerechtigkeitsfrage, soziale Gerechtigkeit für ihn eine Selbstverständlichkeit. Und überhaupt: Mehr Gerechtigkeit führt auch zu einem neuen Miteinander. So gerecht, so gut.

An Respekt soll es im neuen Deutschland, im Schulzland, ebenfalls nicht mangeln. Respekt vor Lebensleitungen, Respekt vor der Arbeit der Feuerwehrleute, Respekt vor Menschen, die hart arbeiten und sich an Regeln halten, Respekt vor Kindern, Eltern und Großeltern. Damit auch klar ist, dass 100 Prozent Respekt genauso wichtig sind wie 100 Prozent Gerechtigkeit, machte es Schulz ganz deutlich, sozusagen hundertprozentig: „Es ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die dafür sorgen muss, dass jeder einzelne Mensch, jeder Mann, jedes Kind, jede Frau im Mittelpunkt unseres Denkens und im Mittelpunkt unseres Handelns stehen. Ich möchte, dass der einzelne Mensch Respekt bekommt.“ 

Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind – hat Schulz da nicht etwas vergessen? Richtig, Schulz hat ganz übersehen, dass die Aufteilung der Menschheit in Männlein und Weiblein genau das Gegenteil von Fortschrittlichkeit ist. Ach, hätte er doch nur im Koalitionsvertrag des rot-rot-grün regierten Berlin nachgeschaut, dann wäre ihm dieser Rückfall in stockkonservative Zeiten nicht passiert. Dort heißt es: „In Berlin leben eine große Vielfalt von Lebensentwürfen und starke Communities von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen, Transgendern, Intersexuellen und Menschen, die sich als Queer verstehen (LSBTTIQ*). (…) Die Förderung von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe in ganz Berlin werden die Arbeit der Koalition bestimmen.“ Also, beim nächsten Mal muss Schulz seine Respekt-Formel deutlich erweitern: Jeder einzelne Mensch, jeder Mann, jedes Kind, jede Frau, jede Lesbe, jeder Schwule, jeder Bi- und Transsexuelle, jeder Intersexuelle, jeder Queer- und Transgender-Mensch sowie alle übrigen Angehörigen der LSBTTIQ*-Community sollen künftig im Mittelpunkt stehen. So viel Zeit muss schon sein.

Auch Würde ist für Martin Schulz ganz wichtig. Über den Dreiklang von Gerechtigkeit, Respekt und Würde hinaus ist Bildung für ihn Würde und auch die Altersrente hat etwas mit Würde zu tun. Fragt sich nur, wie man Würde und Gerechtigkeit voneinander unterscheiden kann oder soll. Wieso eigentlich ist laut Schulz die Rentenhöhe eine Frage der Würde, der Abbau des Lohngefälles zwischen Männern und Frauen aber eine solche der Gerechtigkeit? Schulz hat ja schon manchen „Arbeitsauftrag“ an sozialdemokratische Bundesminister vergeben. Vielleicht könnte er ja einen der SPD-Wissenschaftsminister in den Ländern mal darüber nachdenken lassen, ob sich Würde und Gerechtigkeit nicht auch als zwei Seiten derselben Walkampfmedaille interpretieren ließen – und zwar mit Blick auf jeden einzelnen Mann, jede einzelne Frau, jedes einzelne Kind und jede einzelne LSBTTIQ*-Mitbürger*in.

Gerechtigkeit, Würde und Respekt – nichts wurde von Schulz so sehr beschworen wie diese drei Schlüsselbegriffe. Allerdings: Neben sozialdemokratisch und Sozialdemokraten benutzte er ein Wort besonders häufig – „ich“. Gleich 108 Mal schallte sein „ich werde“ oder „ich will“ durch die Halle. Spätestens da wurde klar, dass mit der Schulz-SPD wirklich „die neue Zeit“ zieht. Wie kleinlaut hatte vor vier Jahren da „Das WIR entscheidet“ des Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück geklungen. Und wo ist er mit seinem Solidaritätsappell gelandet? Bei kläglichen 25,7 Prozent. Das soll Martin Schulz nicht passieren. Der setzt mit jeder seiner immer etwas übertriebenen Gesten, mit jedem seiner auf Ewigkeitswirkung bedachten Worte auf das große ICH – natürlich im Respekt vor jedem Einzelnen und im Geiste hundertprozentiger Gerechtigkeit.

Veröffentlicht auf www.cicero.de vom 21. März 2017.


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