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07.01.2013

Der Tag an dem Sigmar Gabriel Kanzler von Rot-Rot-Grün wird …

Deutschland hat gewählt – aber es hat sich nicht entschieden. Die CDU/CSU hat zum ersten Mal seit 2002 bei einer Bundestagswahl wieder zugelegt, auf gut 37 Prozent. Die FDP hat mit knapp 6 Prozent den Wiedereinzug in den Bundestag geschafft, aber für Schwarz-Gelb reicht es nicht mehr.

Der Jubel auf der anderen Seite des politischen Spektrums über die Abwahl der CDU/FDP-Koalition hält nicht lange an. Denn Rot-Grün hat keineswegs gewonnen. Mit 27 Prozent ist der SPD gegenüber den 23 Prozent von 2009 zwar ein kleiner Höhenflug gelungen. Dennoch: Zusammen mit den 13 Prozent der Grünen reicht es für Rot-Grün ebenfalls nicht.

Die Linke hat es dank ihres soliden Stimmenpolsters im Osten auf 7 Prozent gebracht, die Piraten haben sich erwartungsgemäß selber versenkt: nur 3 Prozent wählten eine Partei, die vor allem weiß, dass sie nichts weiß. Aus rot-grüner Sicht ist das besonders schlimm: Die heimliche Option, mit Piraten-Unterstützung das Kanzleramt zu kapern, ist Makulatur.

„Bullshit“ kommentiert Kanzlerkandidat Peer Steinbrück das Desaster, SPD-Chef Sigmar Gabriel zieht die deutsche Übersetzung des zweiten Teils dieses Wortes zur Lagebeschreibung vor. „Dann machen wir halt wieder eine Große Koalition“, seufzt Frank-Walter Steinmeier; er hört sich irgendwie erleichtert an. Aber da sind sich die beiden anderen Troikaner einig: Nochmals den Kellner für „Mutti“ spielen? Niemals!

Die Zeit drängt. Denn vom Kanzleramt aus werden den Grünen attraktive Offerten für ein „Jamaika“-Bündnis übermittelt, inoffiziell natürlich. Die Liberalen sind gespalten: Sie wollen auf alle Fälle regieren – auch in einem Dreier-Bündnis. Dabei wäre  „Jamaika“ ihnen mit Rücksicht auf die Leihstimmen aus dem CDU-Reservoir lieber als eine „Ampel“ unter SPD-Führung.

Die Grünen wollen ebenfalls regieren. Wenn Jürgen Trittin (59) und Renate Künast (57) in ihrem Leben noch mal Minister werden wollen, dann nur jetzt. Wenn’s irgendwie geht, wollen die Grünen aber ohne diese schrecklichen Liberalen an die Macht. Denn eines ist aus ihrer Sicht klar: Die von den Grünen im Wahlkampf propagierte Erhöhungs-Orgie bei Steuern und Abgaben klappte problemlos mit der SPD, aber nicht mit der FDP.

Tagelang locken Union und Sozialdemokraten die Grünen und die FDP mit vor allem personell attraktiven Angeboten für einen „Dreier“. Tagelang kommen aus dem Konrad-Adenauer-Haus wie aus dem Willy-Brandt-Haus Appelle an die staatsbürgerliche Verantwortung, an den demokratischen Konsens. Doch es bewegt sich nichts, weder bei Grünen noch bei der FDP.

Am 3. Oktober, bei den offiziellen Feierlichkeiten zum „Tag der deutschen Einheit“ in Stuttgart, begegnen sich ein miesepetriger Sigmar Gabriel und ein gut gelaunter Gregor Gysi. „Siehst Du“, macht er den Sozi an, „Totgesagte leben länger“. Gabriel kann nicht mitlachen. Nickt aber, als Gysi vorschlägt: „Lass und nach den Reden mal reden.“

Kurz darauf, während Bundespräsident Joachim Gauck am Rednerpult das hohe Lied der Freiheit anstimmt, vibriert Gysis Handy. „Soll ich Trittin mitbringen?“ liest er da unter Gabriels Nummer. Gysi simst zurück: „Warum nicht?“. Bleibt die Frage des Treffpunkts. Gysi hat die rettende Idee: Nachher beim offiziellen Empfang, da falle es am wenigstens auf, wenn man kurz zusammenstehe. So sehen einige der in festliches Blau und Schwarz gewandeten Mitgliederinnen und Mitglieder der politischen Klasse, wie sich an einem Bistro-Tisch die Herren Gabriel, Trittin und Gysi angeregt unterhalten.

Das Gespräch ist kurz, man will nicht auffallen. Der Demokratie-Experte Gysi meint, eine Große Koalition wäre nicht gut für das Land. Der Macht-Experte Trittin bemerkt mit gewohnt leidender Miene, jede Koalition mit FDP-Beteiligung werde die grüne Basis torpedieren. Der Troika-Experte Gabriel stöhnt: „Ihr habt ja Recht. Aber bei Rot-Grün-Rot macht der Peer nicht mit.“ „Na und?“ entgegnet da Trittin. Gysi feixt: „Du kannst Kanzler, Sigmar, so schwer ist das nicht.“

Nach zehn Minuten trennen sich die Herren, wie man sich nach solchen Zufallsbegegnungen auf Stehempfängen eben trennt – jovial, laut lachend, ein Winken andeutend. Nur wer genau hinschaut bemerkt Gabriels federnden Gang; er scheint zu schweben.

Wenige Tage später beginnen die Sondierungsgespräche für die erste rot-grün-rote Koalition. Peer Steinbrück sitzt als Ex-Kanzlerkandidat mit am Tisch, macht aber klar, dass er kein Amt anstrebe. Er will hier nur „einen Beitrag“ leisten. Oskar Lafontaine ist nicht dabei. Er will die aus seiner Sicht kleingeistigen Sozialdemokraten nicht provozieren. Als Gegenleistung für seine Abstinenz handelt er mit Gysi aus, dass Sahra Wagenknecht Fraktionsvorsitzende wird. Auf Seiten der Sozialdemokraten führt der Parteivorsitzende Gabriel die Verhandlungen, wer auch sonst?

Was den Damen und Herren Unterhändlern bald auffällt: Inhaltlich sind sie ja gar nicht so weit auseinander. Da der Rückzugstermin der Bundeswehr aus Afghanistan bereits feststeht, sind die außenpolitischen Differenzen zwischen SPD/Grünen einerseits und Die Linke andererseits relativ leicht überbrückbar. Keiner in der Runde hat nicht schon gegen Atomwaffen und Krieg demonstriert, die „Wessis“ aus Überzegung, die „Ossis“ aus Staatsräson.

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik sind sich die Linken aller drei Parteien ohnehin weitgehend einig. Natürlich werden Banken und Energiekonzerne nicht verstaatlicht; da muss Die Linke nachgeben. Der „Streit“, ob der Spitzensteuersatz auf „nur“ 49 Prozent steigen soll oder doch auf 53 Prozent, wie die Linkspartei verlangt, lässt sich hingegen beilegen. Künftig gelten die 49 Prozent schon ab 70.000 Euro im Jahr.

Hartz IV? Wird natürlich kräftig erhöht. Man muss ja irgendwie die durch Umverteilung generierten Milliarden ausgeben. Und die Rente mit 67? Die wird entschärft. Wer mit 65 Jahren in den Ruhstand will, darf das tun – ohne Abschlag. Er braucht nur eine Bescheinigung des Hausarztes, dass er sich überfordert fühlt. Da zischt Steinbrück in Richtung Grüne: „Ihr wart doch bei der „Agenda 2010“ dabei.“ Doch Karin Göring-Eckart zuckt nur nonchalant mit den Schultern: „Die Zeit ist nicht stehen geblieben – und wir auch nicht.“

Hatten SPD und Grüne nicht vor der Wahl verkündet, sie würden nie und nimmer mit der Ex-PDS koalieren? Da findet sich leicht eine Sprachregelung: Erstens sei es im Interesse einer funktionierenden Demokratie, dass der Regierung eine starke Opposition gegenüber stünde – und nicht die beiden Großen zusammen kungelten. Und zweitens dürfe man Parteien nach der Wahl nicht an ihren Aussagen vor der Wahl messen. Der Wähler, der höchste Souverän, habe dem Parlament einen Arbeitsauftrag zur Regierungsbildung erteilt. Parteien müssten regieren oder opponieren, aber nicht durch „Ausschließeritis“ das Land lahm legen.

Der designierte Kanzler Gabriel fasst zwischendurch die Lage so zusammen: „Es geht um soziale Gerechtigkeit, nachhaltige Umweltpolitik und wegweisende Friedenspolitik. Und da bestehen zwischen unseren Parteien eben die größten Schnittmengen“. Sahra Wagenknecht stimmt prinzipiell zu, weist aber darauf hin, dass die Überwindung des Kapitalismus unverändert ihr Ziel bleibe.

Steinbrück ist da schon auf dem Weg nach Hause, Gysi lächelt mild. Und Heribert Prantl analysiert am nächsten Morgen in der „Süddeutschen“: „Bei Licht besehen sind die drei künftigen Koalitionsparteien Fleisch vom Fleische der schon vor mehr als 100 Jahren entstandenen einen großen demokratischen, sozialen und pazifistischen Bewegung. Nach Irrungen und Wirrungen, Spaltungen und Abspaltungen regiert jetzt zusammen, was zusammen passt“.


Erstveröffentlichung: cicero-online, 7. Januar 2013
http://www.cicero.de/berliner-republik/dem-sigmar-gabriel-kanzler-von-rot-rot-gruen-wird/53069



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