17.11.2006

Es ist was faul im Staate Deutschland

Es war einmal ein Land, in dem flossen zwar nicht Milch und Honig. Aber den Menschen ging es gut, die Wirtschaft florierte und die Beschäftigung war hoch. Die Sozialquote, also der Anteil der Sozialausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, betrug 25 Prozent und die Staatsquote, der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, lag knapp unter 40 %. 
Die Regierung dieses Landes handelte nach den Regeln der sozialen Marktwirtschaft. Und sie sorgte dafür, dass die Menschen das Prinzip befolgten „Hilf Dir selbst, dann hilft Dir auch der Staat, wenn Du einmal unverschuldet in Not geraten solltest“. Folglich waren die Menschen gezwungen, für sich selbst zu sorgen. Nun denen, die das nicht konnten halfen Staat und Gesellschaft.

Dieses Land war so erfolgreich, dass es von vielen anderen Ländern beneidet wurde. Das „Modell Deutschland“ wurde in vielen Ländern gerühmt und teilweise zum Maßstab genommen. Die Rede ist von der Bundesrepublik Deutschland – aber Anfang der siebziger Jahre. 
Es war also ein wahres Märchen. Dennoch gab es auch hier böse Mächte, die den Menschen das Blaue vom Himmel versprachen. Das waren die beiden großen Parteien. Die versuchten – letzten Endes gemeinsam – die soziale Marktwirtschaft immer sozialer zu machen. Die Menschen glaubten ihnen gerne, dass höhere Staatsausgaben zu einem angenehmeren Leben für alle führten. Wer will schließlich nicht angenehmer leben – mit mehr Geld bei gleicher Arbeit oder bei gleichem Lohn für weniger Arbeit oder mit einem vom Staat garantierten Einkommen ohne jede Arbeit?

Doch dabei ist etwas ganz anderes entstanden, nämlich ein Land, in dem der naive Glaube an den allmächtigen Staat zum größten gemeinsamen Nenner geworden ist. Ein Staat, in dem im Zeichen sozialer Gerechtigkeit die Fleißigen und Erfolgreichen mit hohen Steuern und Abgaben bestraft werden und in dem folglich Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung weit verbreitet sind. Eine Volkswirtschaft, in der Arbeit teilweise zu teuer wurde, und in der rentable Arbeitsplätze per Tarifvertrag vernichtet und unrentable per Subvention erhalten werden. Eine Volkswirtschaft mit zu vielen Arbeitslosen, die gerne arbeiten würden, und mit zu vielen Kostgängern des Staates, die gar nicht arbeiten wollen.

Kurzum: Bei dem Versuch, seine erfolgreiche soziale Marktwirtschaft immer sozialer zu machen, hat sich dieses Land eine unsoziale Marktwirtschaft eingehandelt. Und wir spüren das an allen Ecken und Enden, weil es den Menschen nämlich trotz der Aufblähung des Staates heute nicht besser geht, sondern insgesamt eher schlechter. Das ist ja das Paradoxe: Die, die immer sagten, je mehr der Staat tue, umso besser gehe es den Menschen, merkten gar nicht, dass der Staat fett und dick geworden ist wie noch nie. Aber die Menschen werden von diesem fetten Staat auf Diät gesetzt.

Der Sozialstaat alter Prägung, dieser Rund-um-Versorgungsstaat, ist nämlich an seine Grenzen gestoßen. Er kann es sich einfach nicht mehr leisten, als Vollkaskoversicherer aufzutreten. Bei einer Staatsquote von fast 50 % und bei einer Sozialleistungsquote von 33 % ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Natürlich muss die Gesellschaft weiterhin Verantwortung übernehmen für die, die nicht arbeiten können oder aus nicht selbst verschuldeten Gründen arbeitslos sind. Aber man muss auch sehen: Wenn wir bei fünf Millionen Arbeitslosen Erntehelfer aus anderen Ländern „importieren“ müssen und nicht einmal 30.000 deutsche finden, dann ist etwas faul im Staate Deutschland.

Deshalb müssen wir uns nicht nur vom Sozialstaat alter Prägung verabschieden. Wir müssen neu definieren, was sozial eigentlich heißt und wie soziale Politik aussehen sollte. 
„Sozial ist, was Arbeit schafft“, lautet eine Formulierung, in der immerhin eine Abkehr von der alten Denkweise steckt, wonach Sozialpolitik in erster Linie aus der Auszahlung von Transferzahlungen besteht – je höher, umso sozialer. In der Tat ist und bleibt eine Wirtschaftspolitik, die für eine hohe Beschäftigung sorgt, die beste Sozialpolitik. Dennoch stellt die Formel „sozial ist, was Arbeit schafft“ zu sehr auf die staatlichen Rahmenbedingungen ab. Kein Arbeitnehmer kann nämlich selber Arbeitsplätze schaffen.

Wer das Soziale nur von Staat und Gesellschaft einfordert, der greift zu kurz. Wir kommen in diesem Land nicht voran, wenn wir nicht auch vom Einzelnen soziales Verhalten fordern, also eine Orientierung des eigenen Tun und Lassen an den Notwendigkeiten der Gesellschaft. Sozial verhält sich demnach nur, wer Verantwortung übernimmt, für sich selbst wie gegenüber der Gemeinschaft. Sozial verhält sich nur, wer von der Gemeinschaft nicht in Anspruch nimmt, wofür er selbst sorgen könnte.

Dabei müssen wir uns vor Illusionen hüten: Der Mensch ist von Hause aus weder idealistisch noch selbstlos. Und die meisten Menschen können rechnen. Wenn der Staat mit einem bunten Sortiment an sozialen Wohltaten wirbt, dann darf er sich nicht wundern, dass die Menschen zugreifen. Dass es in der alten Bundesrepublik Familien gibt, die bereits in der dritten Generation von der Sozialhilfe leben, wo also die Enkel noch nie erlebt haben, dass jemand regelmäßig arbeitet, ist nicht zuletzt das Ergebnis einer fürsorglichen Sozialpolitik, die allzu großzügig ohne Gegenleistung gibt. Wer dem Einzelnen jede Verantwortung abnimmt, darf sich nicht wundern, wenn der guten Gewissens ständig mehr fordert.

Unsoziales Verhalten gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten. Schwarzarbeit ist das Lichtenstein des kleinen Mannes. Mit anderen Worten: Was dem einen die Schwarzarbeit, ist dem anderen das Schwarzgeldkonto im Ausland. Aber unsozial verhalten sie sich beide – jeder so gut er kann. Ganz abgesehen davon: Auch die Empörung der so genannten bürgerlichen Kreise über die Seuche Schwarzarbeit ist heuchlerisch: Es gäbe nämlich keine Schwarzarbeiter ohne Schwarz-Arbeitgeber. Die aber sind vor allem in den Kreisen zu suchen, die das Geld haben, um sich Haushaltshilfe und Gärtner leisten zu können.

Wohin es führt, wenn wir sozial mit immer höheren Sozialleistungen verwechseln, lässt sich an der Staatsverschuldung ebenso ablesen wie – auf dem Umweg über die Verteuerung der Arbeit – an der Arbeitslosenstatistik. Die heftige Diskussion über die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I ist deshalb nur ein Streit über die Dosierung der Schmerzmittel.

Nein, wir müssen das Soziale neu denken. So wie der Sozialstaat alter Prägung bankrott ist, so ist auch die Nehmer-Mentalität vieler Bürger obsolet geworden. Wir brauchen ein sozial verantwortliches Handeln der Bürger in vielen Bereichen – von der Erziehung der eigenen Kinder zu leistungsbereiten Menschen über die eigene Bereitschaft, zugunsten der eigenen Familie fast jede Arbeit anzunehmen bis zur privaten Vorsorge für Krankheit und Alter. Wir brauchen einen sozial agierenden Staat, der denen, die etwas leisten könnten, nicht die Arbeit abnimmt, und der nicht denen, die den Staat betrügen – ob bei der „Stütze“ oder der Steuer – das Leben allzu leicht macht. Wir brauchen einen soziales Verhalten notfalls erzwingenden Staat, der denen, die rein egoistisch und damit „asozial“ handeln, das unsoziale Handwerk legt.

Doch die Chancen dafür stehen schlecht – jedenfalls so lange die Politiker darüber streiten, ob es nicht „ein bisschen mehr“ vom Altbekannten sein darf. Denn so lange sehen auch die Bürger nicht ein, warum sie ihr Denken und Handeln verändern sollten. 

Erstveröffentlichung: "Märkische Allgemeine" vom 16. 11. 2006