25.11.2021

Willkommen in der neuen bunten Republik

Das Cover des Koalitionsvertrags ist farbenfroh gestaltet: rot, grün, gelb, pink, ocker, weiß und schwarz. Dieses bunte Bild symbolisiert nicht nur die drei Koalitionspartner. Es steht auch für das gesellschaftspolitische Leitbild dieser Regierung: bunt, divers, multikulturell.

Dieses im Bund bisher einmalige Bündnis ist ungeachtet sehr unterschiedlicher Positionen der drei Parteien in der Klima-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik geräuschlos und genau im Zeitplan zustande gekommen, eine professionelle Leistung. Bei dem Versuch, „mehr Fortschritt zu wagen“, haben zweifellos viele Gemeinsamkeiten in gesellschaftspolitischen Fragen geholfen. Die Legalisierung von Cannabis war eben nicht die einzige Schnittmenge in den drei Wahlprogrammen, wie FDP-Chef Christian Lindner vor dem 26. September spottete. Da gibt es ganz andere, viel wichtigere Gemeinsamkeiten, die wegführen von einer Bundesrepublik, in der die Handschrift der CDU/CSU noch sichtbar war.

Staatsbürgerschaft zum Nulltarif

Im neuen rot-grün-gelben Deutschland gibt es künftig die deutsche Staatsbürgerschaft für Zuwanderer fast zum Nulltarif. Der Doppelpass wird eher zur Regel. Hier geborene Kinder zugewanderter Eltern bekommen den deutschen Pass, wenn ein Elternteil sich schon fünf Jahre hier aufhält. Für schon länger hier lebende, kaum integrierte „Gastarbeiter“ werden die Sprachbarrieren gesenkt, um die Einbürgerung zu erleichtern. Das beschert dem Land viele neue Wahlberechtigte, was den Koalitionären zweifellos zupasskommt. In die Abteilung „Wählerbeschaffung“ fällt ebenfalls die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre.

Was Rot-Grün in der Vergangenheit als multikulturelles Ziel angestrebt hatte, wird mit Hilfe der Freien Demokraten Wirklichkeit. Zum einen wird der Zuzug von qualifizierten Kräften erleichtert, was mit Blick auf den Arbeitsmarkt sinnvoll ist. Zugleich wird der Familiennachzug von hier lebenden Menschen ohne Anspruch auf Asyl erleichtert. Wer es hingegen schafft, nach illegaler Einreise und abgelehntem Asylantrag eine Ausreise oder Abschiebung zu vermeiden, wird mit der Chance zu einem „Spurwechsel“ belohnt. Er kann auf Arbeitsimmigrant umsatteln. Das mag im Einzelfall sogar vernünftig sein, dürfte jedoch die Attraktivität Deutschlands für Asylbewerber ohne echten Asylgrund erhöhen.

Good bye Ehe

In der Gesellschaftspolitik streben SPD, Grüne und FDP ebenfalls eine ziemlich deutliche Wende an. Die Institution Ehe wird nicht abgeschafft, aber faktisch durch die „Verantwortungsgemeinschaft“ ersetzt. „Jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe“, wie es im Koalitionsvertrag heißt, können in solchen Verantwortungsgemeinschaften „zwei oder mehr“ volljährige Personen „rechtlich füreinander Verantwortung übernehmen“. Man könnte auch sagen: Die Ehe (mit oder ohne Trauschein) wird abgelöst von einer staatlich anerkannten WG.

Selbst wenn Lindner die Koalition ständig als bürgerlich bezeichnet – in der Familienpolitik ist sie das zweifellos nicht. Die angestrebte Regelung, dass jedermann jederzeit seinen „Geschlechtseintrag“ beim Standesamt „per Selbstauskunft“ ändern kann, ist eine Referenz an die kleine, aber sehr laute „LSBQ*T“-Community, dürfte aber im Widerspruch zur Einstellung der ganz großen Mehrheit beim Thema Geschlechter stehen.

Klima, Klima, Klima

Jenseits der „weichen“ Themen hatten es die neuen Partner schwerer, eine gemeinsame Linie zu finden. Aber das ist ihnen in der Klimapolitik ebenso gelungen wie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die klimapolitischen Ziele sind ambitioniert; das Thema zieht sich fast durch alle Kapitel des Koalitionsvertrags. Manches, was bisher bis 2045 erreicht werden sollte, will die Ampel nach Möglichkeit vorziehen, den Kohleausstieg „idealerweise“ bis 2030. Fragt sich nur, ob die erneuerbaren Energiequellen so schnell und so reichlich sprudeln werden, dass die „Energiewende“ nach Abschaltung der letzten Kernkraft- und Kohlekraftwerke nicht mit Hilfe importierten Atomstroms bewerkstelligt werden muss.

Die Ampel hat sich eine Modernisierung der Infrastruktur wie der Wirtschaft zum Ziel gesetzt, will dabei vernünftigerweise Genehmigungs- und Planungsverfahren drastisch beschleunigen. Der Sozialstaat soll kräftig ausgebaut werden. Das ist nicht nur das Herzensanliegen der Sozialdemokraten; auch die Grünen wollen sich als soziale Partei profilieren. Freilich findet sich auf den 177 eng beschriebene Seiten des Koalitionsvertrags kein konkreter Hinweis, was die Innovations- und Sozialoffensive kosten und wie sie finanziert werden soll.

Dank Corona sind höhere Schulden möglich

Es wird keine Steuererhöhungen geben, dafür aber den Abbau „klimaschädlicher“ Subventionen. Weitere zusätzliche Einnahmen soll der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche bringen. Das dürfte indes bei weitem nicht reichen, um die ambitionierten Programme zu finanzieren.

In dieser Lage kommt der Koalition, so grotesk es auch klingen mag, ausgerechnet Corona zu Hilfe. Rot-Grün-Gelb kann im Haushaltsjahr 2022 die Schuldenbremse abermals aussetzen, ohne dass die FDP das Gesicht verlöre. Schließlich erlauben „außergewöhnliche Notsituationen“ eine deutlich höhere Kreditaufnahme als die laut Schuldenbremse zulässigen 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Bund kann 2022 also unter Bezug auf Corona einen „großen Schluck aus der Pulle“ nehmen. Denn die Koalition will für die Klimapolitik und die „Transformation“ der Wirtschaft zusätzliche Mittel „in nie dagewesenem Umfang“ einsetzen. Was nichts anderes heißt als: Schulden, Schulden, Schulden.

Schattenhaushalte

Da vom Haushaltjahr 2023 an die Schuldenbremse wieder greifen soll, werden Schulden in hohem Maße über staatliche Institutionen wie den bereits bestehenden Energie- und Transformationsfonds abgewickelt werden, nicht zuletzt über die Staatsbank KfW. Der Charme dieser „Schattenhaushalte“ liegt darin, dass deren Kreditaufnahme – scheinbar – nicht die Staatsverschuldung erhöht. Dazu passt, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, die bisher nur staatliche Immobilien verwaltete, künftig selbst bauen soll. Die Förderung von jährlich 100.000 Sozialwohnungen wird folglich weitgehend außerhalb des Etats ablaufen.

Ebenfalls völlig offen bleibt, wie SPD, Grüne und FDP die höheren Aufwendungen in der Sozial- und Familienpolitik finanzieren. Die viel großzügigere Gewährung der Hartz-IV-Leistungen, die künftig als Bürgergeld firmieren, werden sehr teuer werden, ebenso das von der SPD durchgesetzte Versprechen, auf Rentenkürzungen und eine Anhebung des Rentenalters zu verzichten. Das läuft auf weitere, milliardenschwere Zuschüsse an die Rentenversicherung hinaus. Ewas Entlastung verspricht die Wiedereinführung des „Nachholfaktors“, was die Rentenerhöhungen zum 1. Juli 2022 dämpft. Aber das gleicht die zusätzliche Belastung der Rentenkasse durch den Renteneintritt der „Baby Boomer“ in den kommenden Jahren bei weitem nicht aus.

Aktienrente: richtig, aber zu wenig

Ein Schritt in die richtige Richtung ist zweifellos die Einrichtung eines Fonds, der Geld am Kapitalmarkt investiert und mit dessen Erträgen die Rentenleistungen aufgestockt werden sollen („Aktienrente“). Ein Erfolg der FDP. Aber mit den zunächst vorgesehenen 10 Milliarden Euro lassen sich nicht Renditen in einer Höhe erwirtschaften, die für eine nennenswerte Zusatzrente für mehr als 20 Millionen Renten ausreichen. Dieser Kapitalstock muss folglich jährlich dotiert werden, sofern das Ganze einen Sinn machen soll. Dazu findet sich im Koalitionsvertrag nichts.

Sehr kostspielig dürfte die Einführung einer Kindergrundsicherung werden, mit einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag für alle Kinder und Jugendliche und einem gestaffelten Zusatzbetrag, der vom Einkommen der Eltern abhängig ist. Hier fehlt, wie auf allen 177 Seiten des Koalitionsvertrags, das Preisschild.

Keine Regierung gibt nur das Geld der Steuerzahler aus. Die Kosten der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik werden vielfach den Unternehmen aufgebürdet. Die Erhöhung des Mindestlohns von 9,60 auf 12 Euro wird gerade kleine Unternehmen erheblich belasten. Dasselbe gilt für zusätzliche Kinderkrankentage, die Arbeitgeber ihren Mitarbeitern mit Kindern gewähren müssen. Das alles schlägt sich nicht im Bundeshaushalt, sondern in der Kostenrechnung der Unternehmen nieder.

FDP sagt der CDU „Tschüss“

SPD, Grüne und FDP haben Kompromisse gefunden. Dennoch lässt der Koalitionsvertrag klar erkennen lassen, wo die jeweiligen Schwerpunkte der Koalitionspartner liegen. Gleichwohl fiel die Lobeshymne des FDP-Chefs Lindner auf den künftigen Kanzler Olaf Scholz aus dem Rahmen der zu Beginn einer Koalition üblichen Nettigkeiten der Partner untereinander. Lindner setzte damit auch ein Zeichen: Mit der CDU haben die Freien Demokraten nichts mehr im Sinn. Ihr neues Motto: bunt statt bürgerlich.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 25. November 2021)


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