05.10.2020 | Taunus Zeitung

„Taunus-Zeitung“ – 5. Oktober 2020

"Wir sollten daraus für die Zukunft lernen"

BAD HOMBURG. 30 Jahre ist es her, dass die Deutsche Demokratische Republik (DDR) der Bundesrepublik Deutschland beitrat. Für Dr. Hugo Müller-Vogg ist die Überwindung der Teilung noch heute ein "Grund zum Feiern". "Die friedliche Revolution von 1989/1990 und die Erringung der Freiheit für 16 Millionen Deutsche war eine der großartigsten Leistungen in der deutschen Geschichte", sagte der Publizist und ehemalige Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am Samstag in der Erlöserkirche.


Anlässlich des 30. Jahrestages der Wiedervereinigung hatte die Stadt dorthin zum Festakt geladen. In feierlichem Rahmen - neben Müller-Vogg sprachen auch Oberbürgermeister Alexander Hetjes (CDU) und Pfarrer Andreas Hannemann, dazu gab es ein musikalisches Programm mit Susanne Rohn und dem Bach-Chor der Gemeinde - begingen knapp 100 Gäste den Ehrentag.

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"1989 war die wunderbare Frucht ununterbrochener wöchentlicher Friedensgebete herangereift. Am 9. Oktober, dem Tag der Entscheidung, wurde die Nikolaikirche im Verbund mit anderen Innenstadtkirchen zum Ausgangspunkt der Demonstrationen der 70 000 und damit zum Kernpunkt der friedlichen Demonstration. Immer wieder, so auch an diesem Tag, die Bitte: ,Lasst die Gewaltlosigkeit nicht in der Kirche stecken, nehmt sie mit hinaus auf die Straßen und Plätze!' ", verlas er aus den Erinnerungen des damaligen Pfarrers der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer. Hannemann konstatierte: "Damals gab es Menschen, die bereit waren, mutig für das Gemeinwesen einzustehen. Wir sollten daraus für die Zukunft lernen."



Dass die Aufbruchstimmung von 1990 teilweise in Ernüchterung endete, daran erinnerte Müller-Vogg in seiner Festrede "Auferstanden aus Ruinen, Erfolgsgeschichte Deutsche Einheit". Wie so viele sei er damals davon ausgegangen, ohne Mauer und ohne SED würden die beiden Teile Deutschlands schnell zusammenwachsen, sagte er und konstatierte: "Wir hatten nicht erkannt, wie unterschiedlich die Ausgangslagen westlich und östlich der Mauer waren. Wir hatten nicht erkannt, wie sehr sich Ost- und Westdeutsche in Bezug auf Mentalität und Befindlichkeit unterschieden. Die Mauer in den Köpfen ist keineswegs völlig beseitigt."

Es sei kein Wunder, dass vielen Ostdeutschen trotz "Unrechtsstaat DDR" positive Erinnerungen an Familie und Freunde, an einen nicht gerade gut bezahlten, aber sicheren Arbeitsplatz und an eine Gesellschaft, in der es weniger Wettbewerb gegeben habe, noch präsent seien. "Wir im Westen haben auch nicht erkannt, welch Anpassungsleistung den Menschen abverlangt wurde." Die Menschen seien quasi über Nacht zu Einwanderern im eigenen Land geworden.

Trotz der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede sei die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte. "Wer heute durch die neuen Länder fährt, der kann dort unschwer blühende Landschaften erkennen, auch wenn nicht alles blüht und an manchen Stellen noch zusätzlich gesät und gedüngt werden muss", so Müller Vogg. Der Satz von Willy Brandt "Deutsche, wir können stolz sein auf dieses Land" sei unverändert aktuell. Müller-Vogg: "Die Schwierigkeiten unseres vereinten Landes sind mir allemal lieber, als es die Probleme eines immer noch geteilten Landes wären. Wenn das kein Grund zum Feiern ist, was dann?"



(Quellen: Taunus Zeitung vom 05.10.2020)