23.10.2018

Die neue grüne Mitte ist eine Erfindung der Medien

Es grünt so grün: Wenn die Demoskopen derzeit den Wählern den Puls fühlen, dann schlägt der bei den Grünen besonders heftig. In der aktuellen Sonntagsfrage („Wenn morgen Bundestagswahl wäre …“) rangieren die Grünen zwischen 21 Prozent bei Forsa und 15 Prozent bei Allensbach. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl vor 13 Monaten landete die Öko-Partei mit bescheidenen 8,9 Prozent noch auf dem sechsten und letzten Platz.

Der neue Boom, nicht zuletzt befördert durch das jugendlich-dynamisch-hippe Dream-Team Baerbock/Habeck, ist freilich nicht so sensationell, wie er von den meisten Medien dargestellt wird. Wer kein ganz kurzes Gedächtnis hat, erinnert sich noch an die Spiegel-Titelgeschichte von November 2010 über die Trittin, Künast & Co: „Die neue deutsche Volkspartei“. Im Gefolge der Reaktorkatastrophe von Fukushima ermittelte Allensbach 2011 23 Prozent Zustimmung für die Grünen. Das Forsa-Institut kam sogar auf 27 Prozent. Die Landung bei der Bundestagswahl 2013 war entsprechend hart: 8,4 Prozent. Der neue Hype steht – anders als vor sieben, acht Jahren nicht nur auf dem Papier. In Bayern haben die Grünen reale 17,5 Prozent erreicht. In Hessen könnte es am nächsten Sonntag sogar ein Ergebnis in der Größenordnung „Bayern plus“ geben. Denn derzeit läuft es gleich aus mehreren Gründen gut für die Grünen. Die Groko-Parteien CDU und SPD geben ein eher trauriges Bild ab. Die FDP, die im Frühjahr der Mut zum Regieren verließ, wirkt ebenfalls nicht sonderlich attraktiv. Der extrem heiße, trockene Sommer und der Diesel-Skandal passen bestens zum grünen Markenkern, der Umweltpolitik. Überdies treffen die Grünen das Lebensgefühl vor allem solcher Zeitgeist-Genossen, die wirtschaftlich solide dastehen, linksliberal denken, sich weltoffen geben, stets politisch-korrekt formulieren, Gender-Studies für ganz wichtig halten, permanent Toleranz gegenüber allem und jedem predigen, sich gerne als „Antifaschisten“ positionieren und, sofern sie männlichen Geschlechts sind, sich als Feministen fühlen. Diese ebenso coole wie schicke Klientel findet unbegrenzte Zuwanderung als Beleg für die eigene Gutmenschlichkeit erstrebenswert, weil „Geflüchtete“ sich nicht in die von ihnen bevölkerten schicken Altbau-Quartiere verirren.

Wer aus dem demoskopischen Hoch der Grünen bereits eine dauerhafte, tiefgreifende Veränderung der Parteienlandschaft ableiten will, könnte schief liegen. Denn die Stimmengewinne in Bayern waren bekanntlich in erster Linie ein Austausch im rot-grünen Lager. Grüne und SPD hatten zusammen weniger Stimmen als vor fünf Jahren. Wer da von einer neuen grünen Mitte schwärmt, orientiert sich eher an seinen Wunschvorstellungen als an der Realität. In Hessen deutet sich ebenfalls an, dass die Gewinne der Grünen rechnerisch mit den Verlusten der Sozialdemokraten korrespondieren: machtpolitisch ein Null-Summen-Spiel.

Die Grünen haben derzeit „einen Lauf“. Aber wohin sie wollen, ist nicht so recht erkennbar. In Thüringen und in Berlin fühlen sie sich in Regierungen an der Seite der Linkspartei recht wohl und stören sich nicht an der DDR-Nostalgie ihrer Koalitions-Genossen. In Baden-Württemberg und in Hessen kommen sie dagegen mit der CDU bestens zurecht. Bei den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen waren sie selbst gegenüber der FDP, dem Erzfeind, zu weitgehenden Kompromissen bereit. Und in Bayern hätten sie liebend gerne an der Seite der CSU mitregiert, obwohl sie im Wahlkampf den Freistaat noch aus den Klauen der angeblich ausländerfeindlichen, rassistischen und rückständigen CSU alias „AfD light“ befreien wollten.

Beim Blick auf Grünen fällt einem der Satz des sozialdemokratischen Vordenkers Eduard Bernstein ein: „Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles.“ Deshalb ist bei den Grünen in Hessen auch alles möglich: ein Weiterregieren an der Seite der CDU ebenso wie ein rot-rot-grünes Bündnis. Da sind die Grünen eben Realos. Motto: Besser mitregieren als gar nicht regieren. Das hat mit neuer Mitte nichts zu tun. Da ist purer machtpolitischer Realismus – grün verpackt.

Veröffentlicht auf www.focus.de am 23. Oktober 2018.


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