12.05.2018

Jahr für Jahr kassiert der Fiskus 8 Prozent mehr

Für einen Finanzminister sind die Aussichten auf sprudelnde Steuereinnahmen immer eine zweischneidige Angelegenheit. Wenn die Steuerschätzung ein unerwartetes Plus von 63 Milliarden Euro bis 2022 verspricht, dann ist das einerseits rundum positiv, zeugt der zu erwartende Zuwachs doch von einer wachsenden und ertragsstarken Wirtschaft. Andererseits weiß auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz, dass die Aussicht auf zusätzliche Einnahmen bei den Parlamentariern sofort Wünsche nach zusätzlichen Ausgaben auslöst. Da wird dann fleißig Geld verplant, das noch gar nicht in der Kasse ist.

Der Blick zurück ist da schon realistischer. 1991 – im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung – nahmen Bund, Länder und Gemeinden zusammen 338 Milliarden Euro ein. 2017, also 26 Jahre später, belief sich das Steueraufkommen auf 735 Milliarden Euro. Das entspricht einem Zuwachs von stolzen 218 Prozent oder einem jährlichen Plus von mehr als acht Prozent. Der Zuwachs lag demnach vier Mal so hoch wie die Inflationsrate, die in dieser Zeit im Durchschnitt rund zwei Prozent betrug. (Im laufenden Jahr wird der Fiskus rund 770 Milliarden Euro einnehmen.)

Zugegeben, der Staat hatte in diesem Vierteljahrhundert große Aufgaben zu bewältigen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau in der nach 40 Jahren Marx- und Murks-Wirtschaft ruinierten ehemaligen DDR war die wohl größte Herausforderung, die Überwindung der Finanzkrise von 2008/2009 eine andere von Gewicht. Doch an dem mehr oder weniger stetig sprudelnden Steuern lässt sich ablesen, dass all diese Belastungen die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und Bürger nicht geschmälert haben. Denn der Fiskus kann nur dort kassieren, wo Einkommen und Gewinne erzielt werden.

Unser Steuersystem ist auch deshalb so ergiebig, weil der Steuersatz relativ schnell ansteigt. Bei jeder Einkommenserhöhung werden die Arbeitnehmer überproportional, also progressiv besteuert. Das führt unter anderem zu dem Phänomen der „kalten Progression“, wenn die zusätzliche Steuerbelastung zusammen mit der Preissteigerung eine Zunahme der Kaufkraft begrenzt oder ganz verhindert. Mit anderen Worten: Viel mehr kaufen kann man sich nach einer Gehaltserhöhung nicht. Daran hat der Staat bisher wenig geändert.

Die gute Finanzlage bietet eine große Chance. Es ist Geld genug da, um die „kalte Progression“ zu entschärfen, indem der Anstieg der Steuersätze im mittleren Bereich, dem sogenannten Mittelstandsbauch, abgeflacht wird. Und wann, wenn nicht jetzt, wäre eine bessere Gelegenheit, den längst überfälligen Solidaritätszuschlag abzuschaffen? Der Staat schwimmt nicht im Geld. Aber hat er genug, um denen mehr zu lassen, die es erwirtschaften. Es ist Geld da für eine große Steuerreform. Und eine große Mehrheit auch – sofern die GroKo und der Bundesrat nur wollen.

Veröffentlicht auf www.focus.de am 11. Mai 2018.


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