30.07.2017

„Es gibt das Recht auf freie Niederlassung“ - „Die Auffassung haben Sie wohl exklusiv“

Hugo Müller-Vogg: Martin Schulz will im Wahlkampf über „Flüchtlinge“ reden. Gut so. Wenn, wenn nicht jetzt, soll über die wirklich wichtigen Themen diskutiert und gestritten werden? Was mir aber auffällt: Die meines Erachtens falsche Flüchtlingspolitik Angela Merkels im September 2015 war mit Außenminister Steinbrück und dem damaligen SPD-Vorsitzenden und Wirtschaftsminister Gabriel abgestimmt. Hofft Schulz darauf, dass die Wähler vergessen haben, wie „berauscht“ auch die SPD von der Willkommens-Euphorie war? 

Angela Marquardt: Dass Martin Schulz über das Thema Flüchtlinge reden will, ist gut. Die SPD hat den humanitären Akt der Bundeskanzlerin unterstützt, die Menschen aus Ungarn einreisen zu lassen. Gerade weil wir diese Entscheidung unterstützt haben, ist es richtig, dass wir unsere Konzepte im Wahlkampf dazu präsentieren. Wir wissen aus leidvoller Erfahrung, wie notwendig Aufnahmebereitschaft ist, wenn Grund zur Flucht besteht. Willy Brandt wäre andernfalls nie Bundeskanzler geworden. Eine Obergrenze für Asyl darf es dabei nicht geben.

Hugo Müller-Vogg: Die Grenzöffnung im September 2015 hatte Angela Merkel mit der SPD abgesprochen. Dass der unkontrollierte Zustrom anschließend monatelang weiterging, stieß auch nicht auf Widerspruch aus Reihen der SPD, im Gegenteil. Martin Schulz gibt jetzt aber allein Merkel die Schuld: „Merkel hat die Grenzen geöffnet.“ Er versucht also, die Mitverantwortung der SPD zu leugnen. Nicht einmal seine Zahlen stimmen. 2015 kamen nicht „über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland“, wie Schulz behauptet. Es waren nach offiziellen Angaben 890.000. Viel plumper kann man einen „Flüchtlings-Wahlkampf“ nicht betreiben. Ganz abgesehen davon: Wenn 2015/16 die SPD den Kanzler gestellt hätte, gäbe es keine sicheren Herkunftsländer auf dem Westbalkan und in Nordafrika und kein Abkommen zwischen der EU und der Türkei.   

Angela Marquardt: Martin Schulz hat rein faktisch Recht. Auch wenn es eine Abstimmung mit der SPD gab, war es Angela Merkel, die gehandelt hat – und in diesem Fall richtig. Von einem plumpen Flüchtlingswahlkampf kann nur sprechen, wem es auf den Unterschied zwischen 890.000 oder 1 Million ankommt. Aber das ist meines Erachtens nicht entscheidend. Es kommen Menschen in Not. Dass die sicheren Herkunftsländer problematisch sind, wissen wir beide. Ob jedoch das Abkommen mit der Türkei, angesichts von Erdogans Agieren, so klug ist, ist eine andere Frage. Warum reden wir nicht einfach mal über die Chancen, die mit der Zuwanderung verbunden sind?  

Hugo Müller-Vogg: Dass wir eine humanitäre Verpflichtung haben, den „echten“ Flüchtlingen zu helfen, hat mit der Frage, ob der Zuzug auch uns nützt, gar nichts zu tun. Die allermeisten Neuankömmlinge aus fremden Kulturen verfügen – leider – nicht über die entsprechenden Qualifikationen, um in überschaubarer Zeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dass vielen auch die innere Bereitschaft zur kulturellen Integration fehlt, macht die Sache nicht einfacher. Ich halte die vor allem von Wirtschaftsbossen verbreitete These, die Flüchtlinge bildeten die Basis für das nächste Wirtschaftswunder, für zynisch. Die Wirtschaft will sich aus den Flüchtlingen die Besten herauspicken; die große Zahl der Nicht-Qualifizierten ist dann ein Fall für den Staat. Damit Sie mich nicht missverstehen: Wir müssen  alles tun, damit Menschen mit Bleiberecht sich hier in jeder Beziehung gut und möglichst schnell integrieren können. Das gilt ganz besonders für deren Kinder. Aber dass Deutschland dank der Flüchtlinge bessere Zukunftschancen hat als ohne, hat mit der Wirklichkeit ebenso wenig zu tun wie die Schwärmereien von Martin Schulz: „Was die Flüchtlinge uns bringen, ist wertvoller als Gold.“ Wenn dem so wäre, würden sich doch alle europäischen Länder um eine möglichst große Zahl von Flüchtlingen reißen. 

Angela Marquardt: Ich weigere mich, zwischen "echten" und "unechten" Flüchtlingen zu unterscheiden. Wer gibt uns, denen es gut geht, das Recht, Menschen vorzuschreiben, wann sie in Not sind? Und Sie haben mir was in den Mund gelegt, was ich gar nicht gesagt habe: Ich wollte mit ihnen über Chancen reden. Sie tun jetzt so, als hätte ich gesagt, Deutschland hätte mit Flüchtlingen bessere Chancen als ohne. Sie reduzieren Geflüchtete auf ihre Verwertung am Arbeitsmarkt. Mir scheint das zu eng. Ich fände es als Bereicherung, wenn Flüchtlinge zum Beispiel in Schulen über ihre Fluchtgeschichte und die Konflikte in ihrer Heimat berichten. Dann vermitteln wir bereits in der Schule, dass wir mit unserem Wohlstand und unserer Lebensweise sowie Politik teilweise Fluchtursachen verursachen. Aber selbst wenn Sie sich auf den Arbeitsmarkt konzentrieren – was spricht gegen eine Ausbildung? Das Problem ist doch eher, dass selbst aus der Ausbildung heraus abgeschoben wird.

Hugo Müller-Vogg: Es gibt kein universelles Menschenrecht, sich im Land seiner Wahl niederzulassen. Deshalb muss man schon unterscheiden, ob Menschen bei uns Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, oder ob sie – was nachvollziehbar ist – in ein Land wollen, in dem es ihnen selbst ohne Arbeit besser geht als in ihrer Heimat. Auch SPD-regierte Länder unterscheiden zwischen „echten“ und „unechten“ Flüchtlingen; sonst würde ja von diesen überhaupt niemand abgeschoben. Im Übrigen hat der frühere Bundespräsident Joachim Gauck den Zwiespalt zwischen dem moralisch Wünschenswerten und dem tatsächlichen Möglichen auf die treffende Formel gebracht: „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich." Diese begrenzten Mittel müssen wir auf Asylsuchende im Sinne des Grundgesetzes und auf Schutzsuchende nach der Genfer Konvention konzentrieren. Für die fehlenden Fachkräfte öffnet die „Blue Card“ den Weg nach Deutschland.

Angela Marquardt: Es gibt das Recht auf Freizügigkeit. Ob dieses lediglich die Ausreise schützt, ist bis heute umstritten. Für mich ist das auch nicht entscheidend. Ich mag nicht so zynisch werden, dass ich einerseits weiß, auf Kosten des globalen Südens zu leben, und andererseits, wenn die Folgen dieses Lebens an meine Tür klopfen, verrammle ich selbige. Die SPD hat ein konkretes Einwanderungskonzept, in dem klar geregelt ist, wie Einwanderung stattfinden soll. Was finden Sie daran eigentlich falsch? Was Abschiebungen anbetrifft, unterliegen Sie im Übrigen einem Irrglauben. Es gibt unterschiedliche Gründe für Abschiebungen. Sie erinnern sich sicher daran, dass auch in dieser Legislaturperiode für straffällig gewordene Flüchtlinge die Kriterien für eine Abschiebung gesenkt wurden. Ich persönlich finde das ja falsch. Aber es ist eben nicht so, dass Abschiebungen jeweils nur davon abhängig sind, wo jemand herkommt. Und lassen Sie mich noch was zu den angeblich endlichen Möglichkeiten sagen: Welche sollen das eigentlich sein? Wenn angeblich und nach Wunsch der Union 2% mehr für Rüstung ausgegeben werden kann, sind wir noch lange nicht am Ende der Möglichkeiten. 

Hugo Müller-Vogg: Die Auffassung, jeder Mensch könne sich überall auf der Welt niederlassen, haben Sie wohl exklusiv. Das zeigt ja auch das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wonach Flüchtlinge sich innerhalb der EU nicht aussuchen können, wo sie Asyl beantragen. Warum fordert denn die SPD in ihrem „Regierungsprogramm“ die Außengrenzen Europas zu sichern? Und warum fordert die SPD die „konsequentere Rückführung“ nicht anerkannter Asylbewerber? Ihr Kanzlerkandidat hat die Flüchtlingsdiskussion doch gestartet, weil er keine unkontrollierte Zuwanderung will. Offenbar bin ich da näher bei Schulz als Sie (lacht). Die SPD will „den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte“ steuern, Deutschland soll „im weltweiten Wettbewerb um die klügsten und innovativsten Köpfe an der Spitze“ stehen. Aber der Großteil derer, die 2015/16 unkontrolliert zu uns gekommen sind, fällt sicher nicht in Kategorie der „innovativsten Köpfe“. Und was die „endlichen Möglichkeiten“ angeht: Da geht es auch, aber nicht nur um Geld. Da geht es nicht zuletzt um die Fähigkeit, Zuwanderer aus ganz anderen Kulturkreisen zu integrieren. Denn mit dem Zuzug zahlreicher, nicht integrationswilliger Menschen wachsen die ohnehin vorhandenen Parallelgesellschaften an. Zugleich steigt die Zahl der „Mitbürger“, die unsere Lebensweise, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat fundamental ablehnen, ja verachten und bekämpfen. Das alles soll „wertvoller als Gold“ sein? Das glaubt Martin Schulz wohl selbst nicht mehr.

Angela Marquardt: Ich habe gerne exklusive Meinungen (lacht), aber ganz so exklusiv ist sie nicht. Sie kennen ja sicherlich die Initiative "Kein Mensch ist illegal". Und in Frankreich wurden vor einiger Zeit Menschen ohne Papiere legalisiert. Martin Schulz hat die Diskussion gestartet, damit wir über die Konzepte für Einwanderung reden können. An das Asylrecht will ja außer der AfD zum Glück niemand ran, zumindest was weitere Einschränkungen angeht. Ich wäre ja dafür, es in seiner Fassung von 1993 wieder herzustellen. Ein Großteil derer, die 2015/16 zu uns gekommen sind, würde dann darunter fallen. Natürlich ist Integration nicht allein eine Frage des Geldes. Ich teile jedoch Ihre Einschätzung nicht, dass es ab einer bestimmten Anzahl neuer Mitmenschen, auch aus anderen Kulturkreisen, unmöglich ist, diese zu integrieren. Ich sehe vor allem nicht die Integrationsunwilligkeit der meisten Zugezogenen. Wenn wir hier ausreichend Angebote jenseits von Massenunterkünften ohne Privatsphäre schaffen, bin ich ganz optimistisch, dass wir sagen können: Wir schaffen das.

Veröffentlicht auf www.cicero.de am 28. Juli 2017.


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