25.04.2017

Demokratie ist kein Kinderspiel

Das Prinzip „one man, one vote“ ist das Grundprinzip jeder demokratischen Ordnung. Jede Stimme hat das gleiche Gewicht, ganz gleich, ob sie von einem Hochschulprofessor oder einem Hilfsarbeiter, von einem Polit-Profi oder einem Mitbürger abgegeben wird, der sich über Politik allenfalls im Fernsehsender rtl2 informiert. Deshalb werden Abgeordnete bei uns „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“ (Art. 38, 1 Grundgesetz), aber nur von denen, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben.

Der Deutsche Familienverband will das ändern. Er plädiert für ein „Wahlrecht von Geburt“ an. Die Begründung: Nur so könnten die Bedürfnisse von mehr als 13 Millionen Kindern am Wahltag mehr Gewicht erhalten. Nur so hätten auch die ein indirektes Mitspracherecht, die von künftigen politischen Entscheidungen stärker betroffen seien als Senioren. Das Prinzip: Die Eltern erhalten pro Kind eine zusätzliche Stimme. Die sollen sie stellvertretend für die Kinder abgeben, bei größeren Kindern nicht ohne vorherige Diskussion mit diesen.

Hinter der Initiative „Nur wer wählt, zählt“ stehen honorige Politiker. Schirmherrin ist die frühere Familienministerin Renate Schmidt (SPD). Die stellte die Frage, warum Menschen im Altersheim („dement und 90 Jahre“) wählen dürften, obwohl sie von den Folgen ihrer Stimmabgabe nicht mehr betroffen wären. Mitkämpfer für das Kinderwahlrecht sind FDP-Urgestein Hermann Otto Solms, Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) oder der frühere thüringische Minister Klaus Zeh (CDU). Solms hatte den Kampf für ein Wahlrecht von Geburt an bereits im Jahr 2000 angestoßen. Doch der Zuspruch blieb seitdem überschaubar.

Irgendwie erinnert das „Wahlrecht ab Geburt“ an das Dreiklassenwahlrecht in Preußen. Dort hing der Einfluss an der Wahlurne davon ab, wieviel Steuern jemand zahlte. Wer hingegen Armenunterstützung bezog, durfte gar nicht wählen. Die Idee dahinter: Wer mehr zum Steueraufkommen des Staates beiträgt, soll auch stärker mitbestimmen dürfen, wofür der Staat seine Einnahmen ausgibt. Jetzt fordern honorige Politiker, dass besonders zeugungs- und gebärfreudige Staatsbürger zu Wählern der Sonderklasse befördert werden. Das würde dem Grundsatz der gleichen Wahl ebenso widersprechen wie das Dreiklassenwahlrecht.

Jenseits von verfassungsrechtlichen Überlegungen stellen sich andere, praktische Fragen. Wenn Vater und Mutter politisch unterschiedlicher Meinung sind: Wer darf dann die Stimme stellvertretend für das gemeinsame Kind abgeben? Bei zwei Kindern könnte man ja jedem Elternteil eine Zusatzstimme geben; bei drei Kindern stellt sich dann dasselbe – unlösbare – Problem wie in der Ein-Kind-Familie.

Wie sieht es bei älteren Kindern, bei Teenagern aus? Die Mutter wählt CDU, der Vater SPD und der Sohn oder die Tochter möchte, dass die Kinder-Stimme für die Grünen abgegeben wird. Das kann zu spannenden Diskussionen am Mittagstisch führen – und zu unlösbaren Komplikationen. Kann, darf der Sohn klagen, wenn Vater oder Mutter ihm kühl erklären, sie dächten nicht im Traum daran, „seine“ Stimme den Grünen zu geben? Mit dem urdemokratischen Prinzip, wonach jeder Bürger eine Stimme hat, hat das dann nichts mehr zu tun – und mit dem Wahlgeheimnis nur noch bedingt.

Selbst wenn man die Idee eines „Wahlrechts ab Geburt“ für sympathisch halten mag, erscheint sie doch relativ naiv. Wie wirklichkeitsfremd sie ist, zeigt sich schon daran, dass ihre Unterstützer aus allen politischen Lagern im Ernst nicht daran denken, innerhalb ihrer eigenen Parteien ein „Stimmrecht ab Geburt“ einzuführen. Dann hätte der Vater von 5 Kindern bei der Ortsverbands-Versammlung eben 6 Stimmen, und kinderreiche Parteitagsdelegierte wären plötzlich viel mächtiger als kinderlose Parteimitglieder. Man kann sich schon ausmalen, wie auf örtlicher Ebene diejenigen, die etwas werden wollen, vornehmlich Mitglieder mit mehreren Kindern zu werben versuchen.

Die Befürworter des Kinderwahlrechts schwärmen von der Vision eines „Gleichgewichts der Generationen“. Wer dies glaubwürdig vertreten will, sollte zuerst einmal dafür sorgen, dass das „Wahlrecht ab Geburt“ in seiner jeweiligen Partei Bestandteil der innerparteilichen Entscheidungsprozesse wird. Dann könnte man ja ausprobieren, wohin es führt, wenn der Grundsatz „ein Bürger, eine Stimme“ ersetzt würde durch „je mehr Kinder, umso mehr Stimmen.“ Aber welche Partei will sich von kinderreichen Mitgliedern dominieren lassen? Natürlich keine. Warum sollten dann die Bürger in ihrer Gesamtheit das wollen?

Veröffentlicht auf www.cicero.de am 25. April 2017.


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