10.12.2014

Das Wohlfühlmodell der Deutschen

Die Deutschen sind konsenssüchtig und meiden parteipolitisches Gezanke und Gezerre. Das meint zumindest Hugo Müller-Vogg in seinem neuen Buch „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient! Warum die Große Koalition keine großen Ziele verfolgt". Nach einem Jahr GroKo veröffentlicht der profilierte Publizist und ehemalige Mitherausgeber der FAZ einen Rundumschlag gegen die Regierungskoalition.

Müller-Vogg nimmt die Arbeit der Regierung ein Jahr nach Verabschiedung des Koalitionsvertrages ganz genau unter die Lupe. Seine Kritik fängt dabei schon beim Koalitionsvertrag an. Der Leser mag meinen, er beinhalte nur Phrasen, die an Allgemeingültigkeit und Selbstverständlichkeit nicht zu überbieten scheinen.

Man schmunzelt bei den Worthülsen, schüttelt den Kopf und beginnt zu verstehen, warum der längste Koalitionsvertrag in der Geschichte dennoch keinen großen Wurf darstellen könnte. Alles erinnert an ein zusammengestückeltes Wunschkonzert, in dem jeder Koalitionär seine potentiellen Wiederwähler umgarnt. Aber ist es wirklich so banal?

Sind wir wirklich so leicht um den Finger zu wickeln? Oder steht es einfach so gut um Deutschland, dass wir uns eine Versorgungsehe zwischen den Großkoalitionären leisten können? Der Leser ahnt schon, dass dies nicht der Fall sein kann. Müller-Vogg erinnert sogar an die Zeit Mitte der 90er Jahre. Damals fühlte sich Deutschland wirtschaftlich und politisch auch stark und wurde dann zum kranken Mann Europas.

Ausruhen darf also keine Alternative sein!

So mahnt Müller-Vogg zum Beispiel völlig zu Recht die fehlende staatliche Investitionsbereitschaft an. Er spricht über Möglichkeiten von Public-Private-Projekten, bei denen große Infrastrukturprojekte von staatlicher und privater Hand zusammen getragen werden - ein Blick, den die GroKo offenbar noch nicht gewagt hat. Und auch beim Thema Finanzordnung und Steuerreform ist ein ganzheitlicher Blick für den Wähler noch nicht zu erkennen.

Eine Reform des Länderfinanzausgleichs steht allerdings mit Auslaufen seiner gesetzlichen Regelungen im Jahr 2019 sowie der Einführung der Schuldenbremse auf Länderebene 2020 ohnehin an. Nutzt die GroKo diese Möglichkeit oder hält sie sich stattdessen mit Petitessen auf?

Müller-Voggs Antwort fällt hier eindeutig aus. Scharfsinnig analysiert, gut begründet und treffend formuliert führt Müller-Vogg den Lesern vor Augen, wo die Einnahmepolitik des Staates mit der Ausgabenpolitik auseinanderklafft. Die einzelnen Maßnahmen kritisiert er scharf. Ob Mütterrente, Mindestlohn oder Mietpreisbremse: die Umsetzungen der GroKo kriegen allesamt ihr Fett weg. Der Leser mag versucht sein, nachzuhaken und zu fragen, womit es die Regierungsparteien denn geschickter versuchen sollen. Alternativen, die innerhalb der Parteien und Wirtschaftsinstituten zu - ja durchaus vorhandenen -Missständen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik diskutiert wurden, fehlen mancherorts im Buch leider.

Wer glaubt, Müller-Voggs Buch eigne sich nur als Futternahrung für Wutbürger, irrt. Man kann sich sogar auf gelungene humoristische Passagen gefasst machen. Die Thematik bleibt dabei aber bitterernst. Denn die GroKo scheint sich damit abgefunden zu haben, als Verwalter der Bundesrepublik die Zeit verstreichen zu lassen. Von aktiver Gestaltung fehlt bislang jede Spur. Und warum lassen wir uns das alles gefallen? Sind wir wirklich so konsenssüchtig und freuen uns insgeheim über die ruhigen Zeiten?

Man muss nicht allen Aussagen von Müller-Vogg zustimmen, aber wer schon wieder vergessen oder verdrängt hat, was 12 Monate GroKo mit sich gebracht haben, wird großen Nutzen aus der Lektüre ziehen. Aber Achtung: konsenssüchtige Deutsche, die die Augen lieber verschließen, verspricht das Buch aufzurütteln.

Quelle: www.huffingtonpost.de vom 5. Dezember 2014


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