27.7.2004 | Sueddeutsche Zeitung

Das Streiflicht

Seit einigen Tagen wissen wir, dass es genau einhundert Gründe gibt, Schröder und Merkel zu wählen. Das heißt, es gibt genau fünfzig Gründe für Schröder und fünfzig Gründe für Merkel. So haben es uns der Schröder-Mann Bissinger und der Merkel-Mann Müller-Vogg in Bild erklärt. Seitdem grübeln wir, ob es denn auch fünfzig Gründe gäbe, Lafontaine zu wählen, oder wenigstens fünf. Die Antwort fällt beruhigend aus: Nein, es gibt keinen Grund, nicht einen einzigen. Null, nix, niente. Das ist eine gute Nachricht für alle Demokraten.

Doch halt, jetzt könnte es einen ersten Grund geben! Geliefert hat ihn der Spiegel, eher unfreiwillig und nebenbei: Der Saarländer sei ein schrulliger Mann, und die schrulligste seiner Schrulligkeiten sei die Tatsache, dass er noch immer kein Handy habe. Für den Spiegel ist dieses zeit- und weltferne Verhalten offenkundig auch ein politisches Todesurteil: die neue Linke - ein alter Hut. Bei allen Handyhassern allerdings, bei allen Opfern des Handyterrors und Handywahns hat Lafontaine hiermit einen ersten Pluspunkt gemacht. Gibt es denn noch einen handyfreien Ort auf dieser Welt? Der Friedhof ist es längst nicht mehr, auch nicht der Konzertsaal. Selbst im Urinoir steht man in letzter Zeit immer häufiger neben einem Handymann, dessen geschäftiges Geschnatter sogar das friedliche Wasserrauschen übertönt. Nichts wie weg von hier! Und auf der Flucht fällt einem ein zweiter möglicher Grund ein, Oskar zu wählen. Schon vor Jahren haben Kenner der politischen Szene enthüllt, dass man mit keinem deutschen Politiker so sachkundig über Käse, insbesondere französischen Käse sprechen kann wie mit dem Saarmann Lafontaine. Historische Verdienste könnten den dritten und vierten Pluspunkt bringen: dass der Mann einst die saarländischen Köche lobte und die "Sesselfurzer" in den Ämtern schmähte, und dass er gegen Scharping putschte - den Unsäglichen aufs Rad und in den Swimmingpool trieb.

Lafontaine ist unter den zehn wichtigsten Politikern des Landes der mit weitem Abstand unbeliebteste, genauso unbeliebt, wie Liebling Wulff beliebt ist, sollte das schon sein fünfter Pluspunkt sein? Und weiter: Im ZDF-Sommerinterview nannte SPD- Chef Müntefering den ehemaligen Genossen im beinahe selben Atemzug einen Verräter und einen Hospitanten - eine Schmähung, die gerade bei den Hospitanten dieser Zeitung einige Unruhe ausgelöst hat. Das Bild, an dem da gepinselt wird, ist eindeutig: Dort in der Ecke Lafontaine, der Parasit, der Hassprediger, der politische Stinkefinger, das Ekel Oskar. Hier in der Mitte die Ehrenmänner und Ehrenfrauen der seriösen Parteien. Ein schönes Bild, aber die ganze Wahrheit zeigt es nicht. So arbeiten Lafontaines Feinde fleißig an Lafontaines Aufstieg. Traurig, aber Tatsache. Anders gesagt: alles Käse!

(Sueddeutsche Zeitung)