15.05.2011

Die Medien verherrlichen den Protest und rufen nach dem Plebiszit

Dabei ist der Wutbürger ein Egoist und verdient keinen Lorbeerkranz.

Von Dr. Hugo Müller-Vogg

Sie waren die Helden des vergangenen Jahres, die Wutbürger. Sie wurden gefeiert, weil sie in Stuttgart zu verhindern suchten, was vor 15 Jahren beschlossen wurde. Zu den Wutbürgern wurden auch jene Bayern gerechnet, die in einem Volksentscheid das intoleranteste Rauchverbot der Republik durchsetzten. Zu den Wutbürgern zählten ebenso die Hamburger, die per Stimmzettel das schwarz-grüne Projekt „Einheitsschule“ zu Fall brachten. Wobei der Beifall der Medien für die Entladung des Wutstaus an der Alster nicht ganz so groß war wie etwa bei „Stuttgart 21“. Denn dem Ja zum Gymnasium fehlte das Prädikat „politisch korrekt“.

Der Beifall der meisten Leitartikler war den Wutbürgern sicher, eine äußerst wohlwollende „Berichterstattung“ der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sowieso. Da wurde von den größten Demonstrationen seit 1968 geschwärmt. Vor allem fehlte in keinem Bericht der Hinweis auf die neue Qualität des Aufruhrs gegen „die da oben“. Erstmals soll das fortschrittliche, also linke Lager auf der Straße nicht mehr unter sich gewesen sein. Vielmehr wurde bejubelt, bei „Stuttgart 21“ hätten zahllose CDU-Senioren der Polizeimacht untergehakt gegenüber gestanden.

Glaubte man den Medien, so hat sich das Volk 2010 gegen die abgehobenen Politiker und die verknöcherten Parteien erhoben. Das Bild einer sich empörenden und widersetzenden Bürgerschaft wurde angereichert durch eine nie da gewesene überregionale Berichterstattung über Bürgerbegehren und Bürgerentscheide gegen Infrastrukturprojekte. Die Republik schien in Bewegung: weg vom althergebrachten, repräsentativen Parteienstaat, hin zur neuen, direkten Demokratie.

Die meisten Hymnen halten einem Realitäts-Check nicht stand. Hätten die Fans der Wutbürger das eigene Gedächtnis oder die Archive bemüht, so hätten sie unschwer feststellen können, dass der vermeintliche Aufstand der Massen allenfalls ein „Aufständle“ war. So weist der Politologe Bernd Guggenberger, ein bekennender Sympathisant bürgerlichen Ungehorsams, darauf hin, dass die Protestbewegung in den 70er- und 80er Jahren viel umfassender gewesen sei: „Damals gab es bis zu 20.000 einzelne Initiativen mit bis zu 12 Millionen Teilnehmern“. Und das in der alten, kleineren Bundesrepublik.

So unzutreffend wie die „Entdeckung“ eines neuen Massenphänomens waren die Behauptungen über den Beitrag der Konservativen und Alten zur neuen Protestkultur. Richtig ist: In Hamburg waren es in erster Linie CDU- und FDP-Wähler, die das Gymnasium retteten. Aber der Protest in Stuttgart wurde nach Angaben des Wissenschaftszentrums Berlin nicht von Senioren getragen, sondern von der Gruppe der 45- bis 64-Jährigen. Und die Kämpfer für den Erhalt des Bahnhofs waren derselben Erhebung zufolge zur Hälfte Anhänger der Grünen, während nicht einmal jeder Zehnte sich als Unionsanhänger zu erkennen gab.

Proteste sind legitim. Es spricht ja auch für unsere Demokratie, dass die Bürger die plebiszitären Möglichkeiten auf der Ebene der Länder und Kommunen stärker nutzen als früher. Mehr als 7200 Bürgerbegehren und Bürgerentscheide seit der Wiedervereinigung belegen das. Diese Entwicklung wird von den Medien überwiegend nicht als Gefahr für die repräsentative Demokratie bewertet, sondern geradezu als Heilsversprechen. Während die frustrierten Bürger immer weniger Lust hätten, zur Wahl zu gehen, stimmten sie umso lieber bei Plebisziten ab, wird da suggeriert.

Doch bei dieser Glorifizierung der neuen Helden der Demokratie wird gern eines übersehen: Die Wahlbeteiligung bei Volks- und Bürgerentscheiden ist in der Regel noch schlechter als bei regulären Wahlen. In Bayern und Hamburg setzten 23 bzw. 22 Prozent der Stimmberechtigten ihre Anliegen durch, also jeweils eine Minderheit. Auch bei Bürgerentscheiden liegt die Beteiligung in der Regel deutlich unter der bei Kommunalwahlen. Bei „normalen“ Wahlen weisen die meisten Kommentatoren – mit guten Gründen – auf die mit einer geringen Wahlbeteiligung verbundenen Legitimitätsprobleme hin. Nur bei Plebisziten legen sie andere, großzügige Maßstäbe an.

Man muss konstatieren, dass Bürger heute schneller bereit sind als früher, sich mit parlamentarischen Entscheidungen nicht einfach abzufinden. Zudem erleichtern die modernen Kommunikationsmittel die Organisation von Widerspruch und die Mobilisierung von Protestierenden. Das alles ist Anlass genug, über eine bessere Information der Bürger und ihre frühzeitige Einbeziehung in eine außerparlamentarische Diskussion nachzudenken.

Doch vor der Verherrlichung der Wutbürger sei gewarnt: Wenn wir aus Angst vor Protesten den Bau von Kohle- und Gaskraftwerken, Autobahnen, Müllverbrennungsanlagen, Bahnhöfen oder Stromtrassen der direkten Entscheidung der Bürger überließen, wäre das das Ende gestaltender Politik. Der Wutbürger ist nämlich wie die meisten Menschen ein Egoist. Er denkt in erster Linie an seine eigenen Vorteile und Interessen; die versucht er durchzusetzen. Das darf er – aber er verdient dafür keinen Lorbeerkranz.

Erstveröffentlichung: Magazin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Nr. 2/2011


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